Selbstverständlich gibt es mehr als nur zwei Geschlechter, denn es gibt mindestens:
- das natürliche Geschlecht (sex),
- das gesellschaftliche Geschlecht (gender), sowie
- das grammatische Geschlecht (genus).
Geschlechtergerechtigkeit fängt bei genau dieser Unterscheidung an.
Es muss insofern mindestens unterschieden werden zwischen (a) „Geschlecht“ als Modalität im physiologischen Reproduktionsprozess, (b) „Geschlecht“ als Rollen-Modus im gesellschaftlichen Prozess bzw. als mentale Kategorie in der Selbst-Verortung eines sozialen Rollenträgers, sowie (c) „Geschlecht“ als sprachlicher Klassifikationsmarker, der beispielsweise Substantive, Adjektive und Pronomina logisch (in sich kohärent und zueinander folgerichtig) zusammenführt. Es gibt heutzutage nun eine Kontroverse zwischen jenen, die (a) betonen, und jenen, die (b) betonen; (c) wird dabei jeweils direkt auf (a) bzw. (b) reduziert.
Diese Kontroverse wird in meinen Augen überraschend hart geführt, und ich sehe dabei eine Überlappung mehrerer Konfliktlinien:
- Innerhalb der (inter-disziplinären) Geschlechterforschung stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von „Geschlecht“ und Sprache:
Wird „Geschlecht“ sprachlich abgebildet? Wird „Geschlecht“ sprachlich konstituiert? Oder ist „Geschlecht“ in sich selbst (eine Art von) Sprache? - Daran dockt die Frage nach einer Art „wissenschaftlicher Leitdisziplin“ für die Annäherung an die Chiffre „Geschlecht“ an:
Fällt die Rolle der „Leitdiszplin“ an die Biologie? Fällt sie an die Soziologie? An die Psychologie? Oder an eine andere Disziplin? - Politisch gibt es einen Generationenkonflikt innerhalb der Frauenbewegung:
Soll der Feminismus der zweiten oder dritten Welle weiterhin den Ton angeben? Oder soll der Vierte-Welle-Feminismus die Führung übernehmen? - Auf all dies setzt schließlich die Frage nach dem staatlichen Handeln auf:
Wer soll Nutznießer von positiver Diskriminierung, von aktiver Förderung, von affirmative action durch das Gemeinwesen sein?
Diese vier Fragen hängen systematisch nicht alle notwendig zusammen, sondern ihr Zusammenhang ergibt sich primär durch die Personen, welche an der Kontroverse teilnehmen. Gerade das scheint mir ein, wenn nicht der Grund für die harten Bandagen in dieser Auseinandersetzung: Der Gesamtzusammenhang betrifft letztlich nicht nur eine Sachfrage, sondern direkt auch die Identität der beteiligten Akteure (insofern sie die vierte Frage eben mit „ich“ bzw. „wir“ beantworten).
Ursächlich für die Brutalität der Kontroverse scheint mit aber auch zu sein, dass er übliche Einstiegspunkt in die Debatte bei Frage 4 liegt, und dass der gedankliche Weg dann von 4 nach 1 verläuft: Frage 4 betrifft die Verteilung von Macht, Frage 1 betrifft die Suche nach Wahrheit. Salopp ausgedrückt wird Wahrheit auf diese Weise zum bloßen Nachzügler von (politischen) Machtverhältnissen. Im Extremfall leitet sich daraus dann ab, dass Ermächtigung (empowerment) auch die Verfügungsgewalt über de Grundstrukturen der kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit beinhaltet. In dieser Hinsicht lassen sich in der Kontroverse Elemente von Dualismus („wir gegen die“) und Platonismus („real sind nur [meine] Ideen“) identifizieren und begreifen; der Diskurs hat insofern gewisse Parallelen zur Auseinandersetzung über die Corona-Pandemie.
Auffällig scheint mir dabei in der Tat die Nutzung der Bezeichnung „TERF“: Auf den ersten Blick erscheint der Ausdruck „trans exclusionary radical feminism“ als adäquates deskriptives Etikett für einen Feminismus der zweiten Welle, welcher wiederum dem „trans affirming“ bzw. „trans inclusionary radical feminism“ („TARF“ / „TIRF“) der vierten Welle gegenübersteht. Interessanterweise scheint die Bezeichnung „TERF“ jedoch vermehrt und vor allem dafür genutzt zu werden, „die anderen“ als Gegner bzw. Feinde zu markieren und in eine Sammelkategorie zu packen, die ihrerseits fast synonym zu „die Bösen“ steht und nicht mehr nur Feminist(inn)en umfasst. Bisweilen erfüllt das Etikett auch die Funktion, gemeinhin „üblichen“ Sexismus zu reproduzieren, indem der Ausdruck „TERF“ als Ersatzwort für „Weiber“ o.ä. die Möglichkeit öffnet, misogyne Rhetorik anzuwenden, ohne (oberflächlich betrachtet) misogyn auszusehen.
Jenseits der o.g. ersten Frage nach dem Verhältnis von „Geschlecht“ und Sprache habe ich selbst in dieser Kontroverse eigentlich keinerlei Aktien, und als von Haus aus Historiker hatte ich in der Vergangenheit die größten Auseinandersetzungen eher mit Leuten aus dem „MINT“-Bereich. Was mich darum in der aktuell laufenden Debatte schockiert, ist die erreichte Eskalationsstufe: Eine Doktorandin der Biologie möchte auf Twitter die Einzigartigkeit der Judenvernichtung (sic!) in Worte fassten; sie drückt sich dabei nicht so differenziert und nuanciert aus wie man es von einem gelernten Historiker erwarten würde; schließlich sieht sich diese Doktorandin, als „TERF“ markiert, mit dem Vorwurf der Holocaustleugnung (sic!) konfrontiert.
Da ist im Diskurs eine Leitplanke beschädigt, die sich nur sehr schwer wieder reparieren lässt.

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