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The handmade Gilead

Margaret Atwoods Roman „The Handmaid’s Tale“ beschreibt eine Welt, in der der Staat die menschliche Reproduktion als volkswirtschaftliche Ressource betrachtet und erzwungene Leihmutterschaft gemäß oligarchisch-ökonomischer Grundsätze organisiert. Die meisten Rekurse auf dieses fiktionale Szenario lassen diesen Kern der Erzählung unter den Tisch fallen bzw. ziehen bloß oberflächliche Vergleiche, gerade wenn es um die Debatte zum Thema Abtreibung geht; dabei werden wohl die wenigsten Lebensschützerinnen so eine radikale Ökonomisierung des Menschen befürworten.

Der fiktive Staat Gilead wiederum ist dezidiert nicht „pro-life„: Nicht jeder Mensch, und nicht einmal jedes Kind gilt dort als Träger einer einzigartigen menschlichen Würde. Kinder mit Geburtsfehlern, Kinder mit Missbildungen – die Schwächsten der Schwachen – gelten als unbabies bzw. shredders und werden auf diese Weise ent-menschlicht.

Die Welt von „The Handmaid’s Tale“ beschreibt auch nur oberflächlich ein Patriarchat. Im Wesentlichen bildet das Szenario eine umfassende Instrumentalisierung, das absolute Verfügbar-Machen des menschlichen Daseins ab. Diese Instrumentalisierung kleidet sich lediglich in eine religiös-patriarchale Rhetorik, um auf dieser Grundlage eine Spezifizierung der menschlichen Person durchzuführen.

Ja, das durch Gilead beschriebene Gemeinwesen lehnt Abtreibung ab und stellt diese unter Strafe. Der Clou liegt jedoch darin, dass es sich nicht um prinzipielle Ablehnung handelt: In Gilead gelten Frauen, die abgetrieben haben, effektiv als nationale Ressource, eben weil sie definitiv fruchtbar sind. Abtreibungsärzte hingegen werden im Wesentlichen wegen a) Materialverschwendung und b) Wirtschaftsschädigung verfolgt.

Der zentrale Pfeiler des Staates Gilead besteht am Ende in der Institution der Leihmutterschaft. Und interessanterweise ist es hierbei ausgerechnet die seit 2017 produzierte TV-Serie, die diesen Aspekt auf markante Weise herausstellt: Die Serie zieht hierbei nämlich einen harten Dualismus zwischen Markt und Staat auf, insofern (Spoiler-Alarm?) die privat organisierte Leihmutterschaft der Figur Moira als Ermächtigung (empowerment) und Selbstbestimmung porträtiert wird. Demgegenüber wird die durch staatliche Zentralverwaltungswirtschaft organisierte Leihmutterschaft als Fremdbestimmung und Unterdrückung inszeniert. Zumindest das TV-Gilead stellt damit keine vollständige Abwendung vom „amerikanischen Traum“ dar, sondern es handelt sich lediglich um eine sozialistische, un-amerikanische Aberration: Nicht der zentrale Pfeiler der Diktatur erscheint demnach als falsch, sondern bloß dessen konkrete Umsetzung.

In vielerlei Hinsicht taugt Atwoods fiktionale Welt als komplementärer Entwurf zu George Orwells „1984„, auch und gerade wenn es um die Zerstörung oder Zersetzung des menschlichen Person-Seins geht: Wo Orwell eine nihilistische Hölle zeichnet, da steht bei Atwood eine materialistische Hölle. Bemerkenswert erscheint mir dabei, dass Gilead nicht nur die Schreckensvision einer Herrschaft der religiösen Rechten beschreibt, sondern auch ins extrem gesteigerte Tendenzen der Gegenseite, auch und gerade im Kontext der Welt des sog. „Web 2.0“:

  • Würde und Lebensrecht erhält der Mensch in Gilead erst mit Geburt (vorausgesetzt, man ist kein unbaby);
  • der Mensch kann Würde und Lebensrecht jedoch auch wieder verlieren (sofern man bspw. zur unwoman wird);
  • die Grundlage des sozialen Status ist die jeweilige Gruppenzugehörigkeit (angezeigt über die farbliche Codierung der Kleider);
  • individuelle Abweichungen von der identitären Norm gelten einseitig als negativ (weswegen körperliche Verstümmelung als Strafe, auch für hochrangige Individuen, praktiziert wird);
  • die Gesellschaft insgesamt ist im Wesentlichen Schuld-Gemeinschaft (in die selbst die Niederrangigen qua particicution eingebunden werden).

Im Grunde erscheint mir viel von der realweltlichen Abneigung gegenüber diesem fiktionalen Gemeinwesen gar keine prinzipielle Ablehnung zu sein, sondern lediglich Kritik daran, dass dort „die Falschen“ am Drücker sind – eben weil gerade in den USA die Ökonomisierung des Menschen schon jetzt sehr stark betrieben wird und Gilead in seinem Kern einen über-parteilichen Konsens besitzt.

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