Straßburg (AFP) – Der Europarat hat den Demokratieabbau und die anhaltende Verletzung von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien in Russland angeprangert. Die von Russlands Präsident Wladimir Putin im vergangenen Herbst eingeleiteten Reformen zur Stärkung der Macht des Kreml gäben Anlass zur Besorgnis, hieß es in einem Bericht der Parlamentarischen Versammlung des Staatenbundes. Auch habe Russland entgegen seinen Zusagen die Todesstrafe noch immer nicht abgeschafft, die Medien- und Versammlungsfreiheit systematisch eingeschränkt und die Kontrolle über den Justizapparat verstärkt.
Todesstrafe, Einschränkung der Grundrechte, eine von der Regierung gleichgeschaltete Justiz – kennt man das nicht von irgendwoher? Richtig, es sind Vorwürfe, die so auch häufig an George Bush und damit verbunden an die USA allgemein adressiert sind. Denn wir alle kennen ja den blutrünstigen Gouverneur aus Texas, der kleine Kinder Häftlinge zum Frühstück verspeist, bevor er sich in Guantánamo an den misshandelten Gefangenen ergötzt, um sich danach durch den von seinem Vater eingesetzten Supreme Court zum Herrscher über die freie Welt küren zu lassen.
Die Berichterstatter, der britische Konservative David Atkins und der SPD-Bundestagsabgeordnete Rudolf Bindig, bemängelten unter anderem die jüngste Reform des Wahlrechts, die die Bildung politischer Parteien erschwert und ihren Zugang zur Duma, dem Unterhaus des Parlaments, stark einschränkt. So wurde die Hürde für den Einzug von fünf auf sieben Prozent erhöht. Außerdem wurden Wahlkoalitionen verboten und die Mindestzahl von Parteien, die in der Duma vertreten sein müssen, von vier auf zwei halbiert.
Auch dieser Vorwurf eines unfairen Wahl- und Parteiensystems dürfte uns wohl zur Genüge bekannt sein. Schließlich gibt es über dem Teich ja nur zwei Parteien, von denen die eine darüber hinaus noch alles kontrolliert. Und angesichts dieser Tatsache dürfte es wenig verwunderlich sein, dass Kleinparteien wie die Sozialisten oder die Grünen keinen nennenswerten Einfluss auf us-amerikanische Politik haben (von Ralph Naders Einsatz im Jahre 2000 zugunsten George Bushs mal abgesehen).
Was aber jetzt ernsthaft interessant sein dürfte, ist wohl die Tatsache, dass die Macher dieser Reform (eine „Revolution von oben“ dürfte es wohl eher beschreiben) bei einem Wahlsystem, das der in Deutschland praktizierten personalisierten Verhältniswahl sehr ähnelt, davon ausgehen, dass irgendwann einmal der Fall eintreten könnte, dass nur zwei Parteien ins Parlament gewählt werden könnten (warum sonst sollte diese Regelung einen Sinn machen?) – obwohl bei den letzten Dumawahlen 23 Parteien zur Wahl standen. Was hier offenbar versucht wird, ist, das Parteiensystem zunehmend zu vereinheitlichen (vornehmlich wahrscheinlich auf die Linie des Präsidenten). Denn warum sollte man sonst versuchen, neu gegründete Parteien (wenn es sie denn noch geben sollte) durch eine Erhöhung der Sperrklausel vom parlamentarischen Leben fernzuhalten? Und was wird wohl der nächste Schritt sein? Da Wahlkoalitionen gleich mitverboten wurden, ist es doch nur logisch, dass sich entsprechende Parteien vereinigen, um wenigstens noch ein klein wenig länger auf der Bildfläche bleiben zu können. Und, ratzfatz, haben wir in einigen Jahren womöglich nur noch zwei Parteien, die sich programmatisch zwar kaum (von der Linie des Kreml) unterscheiden (und somit den Ausdruck „parlamentarische Kontrolle“ ad absurdum führen), der eigenen Bevölkerung (und der westlichen Welt natürlich) aber eine gewisse Pluralität vorgaukeln können. Schließlich haben wir auf der Gegenseitseite Amerika und sein Zweiparteiensystem. Und weil man gerne so schön vereinfacht, lässt man eben die Nebensächlichkeiten wie Wahlsystem und dergleichen einfach weg.
Gleichzeitig baut die Reform Putins Einfluss auf die Zusammensetzung des Oberhauses (Föderationsrates) erheblich aus. Die Hälfte seiner Mitglieder werden nun von den regionalen Gouverneuren ernannt. Diese wiederum werden vom Präsidenten ausgewählt und können jederzeit von ihm abberufen werden. Diese Situation sei „eindeutig unvereinbar mit dem Prinzip der Trennung von Legislative und Exekutive“, rügt der Ausschuss. Besorgnis erregend seien auch Pläne, wonach die Moskauer Regierung künftig Richter ernennen und abberufen soll.
Hier haben wir einen interessanten Fall: nicht nur, dass auch in Russland die regionalen Exekutiven (die Regierungen der 89 Föderationssubjekte) auf föderaler Ebene Legislativfunktionen übernehmen (das gibt es so auch in Deutschland oder in der EU), sondern diese Regionalexekutiven werden auch direkt vom Präsidenten, der Spitze der Bundesexekutive, direkt bestimmt. Da ist also der Weg bereitet, wenn nicht sogar der fundamentale Grundstein gelegt für das Führerprinzip, bei dem die höhere Instanz die niedrigere ernennt, anstatt dass die niedrige die jeweils höhere wählt. Eine Umkehr des klassischen Rätemodells also und somit per se das Gegenstück zum us-amerikanischen Modell, wonach auf allen Ebenen die unterste, das Volk nämlich, bestimmt, wer in den entsprechenden Positionen sitzt. Das ohnehin schon schwache Zweikammern-Parlament (schließlich kann der Präsident die Duma auflösen, wenn es die von ihm vorgeschlagene Regierung dreimal ablehnt und damit ggf. so lange Neuwahlen ausrufen, bis ihm das Ergebnis passt) wird weiterhin auf ein Instrument präsidialer Herrschaft reduziert, ohne eine sinnvolle Kontrollmöglichkeit gegenüber dem Staatsoberhaupt bzw. der Regierung zu haben. Das widerspricht nicht nur dem Prinzip der Trennung von Legislative und Exekutive, sondern zeigt nur weiterhin die Richtung, in die es gehen soll: die Aushöhlung des Prinzips der Volkssouveränität zugunsten eines Machtgewinns für den Kreml-Chef, der somit zunehmend zu einem Monarchen auf Zeit wird, wenn er es nicht schon ist. Vorausgesetzt natürlich, dass es Putin nicht wie Lukaschenko in Weißrussland macht und sich nach Ablauf seiner Amtszeit von einem „Plebiszit“ zum Präsidenten auf Lebenszeit „wählen“ lässt.
Massive Kritik übten die Berichterstatter an der Einschränkung der Medienfreiheit. In den vergangenen Jahren seien mehrere unabhängige Fernsehsender geschlossen und kritische Programme aus dem Staatsfernsehen verbannt worden. Einschüchterungen von unliebsamen Journalisten seien an der Tagesordnung.
Tja, Russland hat eben keinen Michael Moore, der diesen Sachverhalt medienwirksam publiziert, so dass die deutsche/europäische Bevölkerung sich in ihren Vorurteilen vom dummen und kriegslüsternen Iwan bestätigt sieht. Was? Oh, Verzeihung, ich vergaß völlig, dass ja überhaupt keine Vorurteile herrschen. Zum einen aufgrund unserer Vergangenheit (schließlich hat die Sowjetunion uns befreit), zum anderen aber, da wir mit Russland in einer historischen Schicksalsgemeinschaft stehen, einer Art „partnership in leadership“. Und daher ist Russland als unser natürlicher Verbündeter geradezu dafür prädestiniert, dem deutschen Volkszorn zu entgehen.
Aber natürlich kann aus Russland kein Moore-Pendant kommen. Denn die us-amerikanische Medienlandschaft lässt sich nur schwerlich mit der russischen vergleichen. Selbst dann, wenn die Prawda nun auch auf englisch sendet. Und in einer obrigkeitsstaatlich gleichgeschalteten Presselandschaft ist es nunmal schwierig – wenn nicht gar unmöglich – eine kritische Stimme zu vernehmen.
[…] Russland wurde im Februar 1996 in den Europarat aufgenommen. Damals verpflichtete sich das Land zu demokratischen Reformen und zur Einhaltung der Menschenrechte. Außerdem sagte Moskau die Abschaffung der Todesstrafe bis 1999 zu. Ein entsprechendes Gesetz liegt der Duma seit mehreren Jahren vor, wurde bisher aber nicht im Plenum beraten.
Ziehen wir Bilanz. Soll (1996): demokratische Reformen, Einhaltung der Menschenrechte, Abschaffung der Todesstrafe bis 1999. Haben (2005): eine weitere Konzentrierung staatlicher Macht auf den ohnehin schon starken Präsidenten, Einschränkung elementarer Grundrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit, Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, keine Abschaffung der Todesstrafe, da das Parlament noch nicht einmal über einen entsprechenden Gesetzesvorschlag beraten hat.
Man sieht also: Wer angesichts dieser Meldung allen Ernstes von einer „Schicksalsgemeinschaft“ oder von einem „lupenreinen Demokraten“ Putin sprechen kann, ohne rot anzulaufen, zeigt sein wahres Verständnis von Demokratie und Menschenrechten und disqualifiziert sich selbst als Kritiker anderer Staaten und Regierungen.
Der Weg des russichen Staates ist damit vorgegeben. Sind die Europäer auch noch so blöd und folgen ihm?
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