Drücke „Enter“, um zum Inhalt zu springen

Nie zweimal in denselben Liquid?

Die aktuell virulente Diskussion um die „Alternative für Deutschland“ (AfD) ist immer auch verknüpft mit der Frage, welche Faktoren denn überhaupt entscheidend waren, dass sie sich erfolgreich im Gefüge der politischen Kräfte der Bundesrepublik festsetzen konnte: Woher kommt der Erfolg der AfD?

Der Eigenmythos

Die AfD ist nicht die erste Partei, die im politischen Spektrum der Bundesrepublik Deutschland „rechts“ bzw. „rechtsaußen“ bzw. „rechts der Union“ steht:1 Im Verlauf der politischen Geschichte der Bundesrepublik gab es mit „Sozialistischer Reichspartei“ (SRP), „Deutscher Reichspartei“ (DRP), „Nationaldemokratischer Partei Deutschlands“ (NPD) oder „Deutscher Volksunion“ (DVU) bereits zahlreiche solcher Angebote; und so steht die AfD letztlich in einer langen Tradition entsprechender politischer Kräfte.

Die in Angela Merkels zweiter Amtszeit als Kanzlerin gegründete Partei stellt dem Selbstbild nach die notwendige Antwort auf „Abstieg“, „Verlotterung“, „Verwahrlosung“ und/oder „Vermerkelung“ der Union dar; denn angeblich biete gerade die CDU seit Angela Merkel keine Heimat (mehr) für Konservative, für Christen und/oder für Christkonservative.2 Ein wesentlicher Grund für diesen desolaten Zustand der Union liege letztlich in ihrer Schlagseite zugunsten der „Liberalalas“, d.h. des wirtschafts- und sozial-liberalen Parteisegments.

Diese Einschätzung erscheint erst einmal nicht vollumfänglich falsch, und das aus zwei Gründen: Zum einen lässt sich in der Ära Kohl durchaus eine gewisse „Freidemokratisierung“ der Union feststellen; die wiederum liegt in der „Lagertheorie“ des ehemaligen CDU-Generalsekretärs Geißler begründet, insofern der Juniorpartner FDP profilgebend für das „bürgerliche Lager“ wurde. In diesem Zuge hat sich tatsächlich das liberale Parteisegment gerade innerhalb der CDU zur dominierenden Kraft entwickelt; mit dem Ergebnis, dass die aus dem liberalen Parteisegment stammende Angela Merkel („Kohls Mädchen“) nicht nur zur Parteivorsitzenden, sondern letztlich auch zur Regierungschefin avancierte. Zum anderen hat sich gerade die CDU spätestens seit dem Bundesparteitag 2003 programmatisch am sog. „Neoliberalismus“ orientiert.3 Daraus könnte man mit guten Gründen die Daseinsberechtigung eines politischen Angebots für konservative Sozialstaatler bzw. sozialstaatliche Konservative ableiten.

Allerdings ist die Einschätzung dieses Selbstbildes auch nicht vollumfänglich korrekt, und dies erst einmal vollkommen ungeachtet der ursprünglich national- bzw. wirtschaftsliberalen Verwurzelung, die in Kontrast zur sozialstaatlichen Strömung steht. Gründungen „rechts der Union“ sind historisch nicht ohne Präzedenz, und dabei stechen in der jüngeren Geschichte insbesondere drei Parteien heraus:

  • Im November 1983 gründeten sich, ursprünglich als Abspaltung aus der CSU, die „Republikaner“ (REP). Dem Selbstverständnis nach „rechtskonservativ“, erfüllten sie durchaus denjenigen Anspruch, der noch im Zuge der „Lagertheorie“ der 1970er Jahre gerade von Seiten der CSU an eine „vierte Partei“ gestellt wurde, ehe sich in ihnen die zur selben Zeit aus der CDU kommende Einschätzung bzw. Befürchtung eines zunehmenden Abdriftens so einer „vierten Partei“ in nationalistische Gefilde verwirklichte.
  • Im Januar 1994 gründete sich auf Initiative des ehemaligen Vorsitzenden der FDP Bayern im Speckgürtel von Union und FDP der im Vergleich zu den REP anfänglich liberaler wirkende „Bund Freier Bürger“ (BFB). Dessen programmatischer Kern lag ursprünglich in der Ablehnung des Maastricht-Vertrags und der europäischen Gemeinschaftswährung; es bestand jedoch von Anfang an eine gewisse Zusammenarbeit mit der rechtspopulistischen „Freiheitlichen Partei Österreichs“ (FPÖ) unter Jörg Haider.
  • Im Oktober 2010 schließlich gründete sich die Partei „Die Freiheit“ rund um das ehemalige berliner CDU-MdA René Stadtkewitz, der zu den Erstunterzeichnern der CDU-internen „Aktion Linkstrend stoppen“ gehört hatte; die Aktion sollte eigentlich eine Parteigründung „rechts der Union“ verhindern. Dem Selbstverständnis nach bot „Die Freiheit“ eine parteipolitische Heimat für „Wertkonservative“ und „Bürgerlich-Liberale“, auch und gerade aus dem Umfeld der Union; von Anfang an stand jedoch eine dezidiert „islamkritische“ Ausrichtung auf der Agenda.

Der Gründung nach waren sich die Profile dieser Parteien in ihrer ursprünglichen Gestaltung ebenso ähnlich wie der jeweilige Gründungsmythos: ein parteipolitisches Angebot für jene, die sich in einer angeblich nach „links“ gerutschten Union nicht mehr heimisch fühlen konnten. Nach „Die Freiheit“ ist die AfD dabei die zweite Gründung in der Ära Merkel. Auffällig erscheint jedoch, dass es auch analoge Gründungen in der Ära Kohl gab, und dass eine dieser Gründungen gar aus der CSU unter Franz-Josef Strauß kommt. Die Erzählung vom angeblichen „Linksrutsch“ erscheint damit eher zweifelhaft und mehr zur notwendigen Selbstvergewisserung denn zum realen Befund zu passen.

Was allerdings zutreffend erscheinen mag: dass eine gewisse Unzufriedenheit mit der Union zur Initialzündung gehören kann; dass dieser Eigenmythos (auch der AfD) also möglicherweise ein notwendiges Element für die bloße Gründung einer Partei benennt. Abseits rein stochastischer Zufälligkeit jedoch liefert dieser Mythos keine hinreichende Begründung für den Erfolg einer so gegründeten Partei. Vor allem im direkten Vergleich mit der Partei „Die Freiheit“ stellt sich konkret die Frage, warum die AfD-Gründung mit Erfolg gekrönt war, während die Neugründung von 2010 nie aus der Versenkung herauskam, in der sie letztlich wieder verschwand.

Auf Anhieb fallen beim Blick auf AfD und „Die Freiheit“ zwei deutliche Unterschiede ins Auge:

  1. Der Gründungszeitpunkt beider Parteien:
    „Die Freiheit“ wurde chronologisch ein Jahr nach einer Bundestagswahl gegründet,4 und erst ein knappes Jahr nach ihrer Gründung nahm die Partei zum ersten mal an einer Wahl teil.5
    Die AfD wurde 2013 hingegen nicht nur chrono-logisch vor, sondern auch ideo-logisch explizit für eine Bundestagswahl gegründet.
  2. Die Gründer beider Parteien:
    Etwa einen Monat bevor er eine neue Partei gründete, wurde René Stadtkewitz (zum damaligen Zeitpunkt bereits ein knappes Jahr parteilos) aus der Berliner CDU-Fraktion ausgeschlossen, weil er gegen den Willen der Fraktion eine „islamkritische Veranstaltung“ mit dem rechtspopulistischen Politiker Geert Wilders durchgeführt hatte.
    Bernd Lucke, andererseits, kehrte aus Kritik an der Eurorettungspolitik Ende 2011 nach über 30 Jahren der CDU den Rücken, beteiligte sich 2012 am „Offenen Brief der Ökonomen“ gegen die Beschlüsse des Eurogipfels, kandidierte Anfang 2013 für die Freien Wähler (seinerzeit Kooperationspartner der „Wahlalternative 2013“) zur Landtagswahl in Niedersachsen und gründete dann, im April 2013, die AfD.

Das sind am Ende zwei Faktoren, die nicht untergehen dürfen; allerdings können auch sie keine hinreichende Begründung für den Erfolg liefern:

Die Zeit als solche ist zwar ein Umstand, der für eine Partei mehr oder weniger günstig sein kann. Allerdings liefert der Zeitpunkt lediglich einen eher formellen, keinen inhaltlich zwingenden Faktor; ein guter Gründungszeitpunkt erscheint strategisch für den Erfolg notwendig, aber wiederum nicht hinreichend. Das empirische Beispiel hierfür liefert die Gründung des BFB: Im Jahr 1994 vor mehreren Wahlen ins Leben gerufen, sollte gerade die damalige Europawahl zu einer „Volksabstimmung gegen Maastricht“ werden; der Erfolg hielt sich jedoch in sehr bescheidenen Grenzen.

Die Gründungspersönlichkeiten wiederum spielen zwar eine durchaus wesentliche Rolle; sie liefern jedoch auch nur einen von mehreren Faktoren. Und wie man im Rückblick sehen kann, hat sich gerade der Erfolg der AfD erst mit der Abkehr von ihrem Gründer Bernd Lucke verstetigt.

Auf der anderen Seite konnten sowohl „Die Freiheit“ als auch die AfD, dies als Gemeinsamkeit, von einer Verschiebung der – auch inhaltlichen – Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik zehren: Langsam aber stetig war die alte „Bonner Republik“ in die neue „Berliner Republik“ übergegangen, und in vielerlei Hinsicht gab es gerade bis zur ersten Kanzlerschaft Angela Merkels durchaus eine gewisse „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, insofern die formell bereits seit 1990 bestehende gesamtdeutsche Bundesrepublik mit ihrem materiellen Gehalt erst zeitverzögert nachzog. Symbolisch hierfür steht die Umsetzung des Hauptstadtbeschlusses, d.h. des Umzugs der bundesdeutschen Kapitale von Bonn nach Berlin.

Veränderte Rahmenbedingungen

In der Spätphase der Regierung Schröder hatte die damalige Kanzlerpartei mit dem Aufstieg einer eigenen Abspaltung zu kämpfen: Im Zuge der Protestbewegung gegenüber dem Reformpaket zum Arbeitsmarkt („Hartz-Reformen“) gründeten Sozialdemokraten und Gewerkschafter, die vom rot-grünen Regierungshandeln enttäuscht waren, im Jahr 2004 die „Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit“ (WASG). Im Zuge des Aufstiegs der WASG normalisierten sich maßgeblich von ihr mitgetragene Demonstrationen gegen die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der Regierung Schröder, die ihrem Namen nach bewusst den Widerstand gegen das SED-Regime bemühten (sog. „Montagsdemonstrationen“). Ironischerweise setzte die „Wahlalternative“ dabei von Anfang an auf das Potenzial der SED-Fortsetzungspartei und verband sich zur Bundestagswahl 2005 mit ihr, ehe sie 2007 gänzlich in ihr aufging.

In zeitlicher Parallele hierzu hat sich auch der politische Diskurs in der Bundesrepublik verändert: Seit dem Spätherbst 2004 verwendete der damalige SPD-Vorsitzende Müntefering in Bezug auf internationale Investoren die Rede von „Heuschrecken“ bzw. „Heuschreckenschwärmen“, und im Frühsommer 2005 sprach der frühere SPD-Vorsitzende und ehemalige Bundesfinanzminister Lafontaine von „Fremdarbeitern“ in Bezug auf Einwanderer und ausländische Arbeitskräfte. Beide Politiker brachten auf diese Weise ein Vokabular in den Mainstream des politischen Diskurses, das aus guten Gründen als rechtsextrem eingeordnet werden kann. Natürlich wurde die Sprachwahl beider Politiker stellenweise als xenophob und sogar antisemitisch kritisiert; allerdings unterschied sich der allgemeine Umgang mit beider Rhetorik nun eklatant von einer anderen Kontroverse um die Sprachwahl eines Politikers: Im Jahr 2003 hatte der damalige CDU-Politiker Hohmann über den Begriff „Tätervolk“ gesprochen, und dies war noch von allen Seiten als antisemitisch kritisiert worden. Die Kontroverse führte letztlich zu Hohmanns Ausschluss aus der Bundestagsfraktion der Union sowie dann auch aus der CDU. Bei Müntefering und Lafontaine führten diese Kontroversen nicht nur nicht zu einem (vorläufigen) Ende der politischen Laufbahn,6 sondern beide Politiker behielten eine gestaltende Position bei: Müntefering wurde im Kabinett Merkel I Bundesminister und Vizekanzler; Lafontaine kehrte an der Spitze der WASG 2005 in den Bundestag zurück und wurde 2007 sogar Vorsitzender der SED-Fortsetzungspartei.

Nach der Bundestagswahl 2005 veränderte sich schließlich das bundesdeutsche Parteiengefüge eklatant: Mit der (zweiten) Großen Koalition brach nach über 20 Jahren die tradierte „Lagertheorie“ mehr oder weniger in sich zusammen; ein neu aufgebrochenes Parteiensystem, das sich zunächst als Fünfparteiensystem konstituierte und in dem die bisherigen Volksparteien nach und nach erodierten, wurde sichtbar. Dieses Gefüge musste sich in der Folgezeit zunächst stabilisieren und war darum offen für neue politische Kräfte. Die Selbstverständlichkeiten der politischen Ordnung aus den Jahren Kohls und Schröders waren verschwunden, und das politische Selbstverständnis (in) der Bundesrepublik wurde essentiell und effektiv neu ausgehandelt.

Die Möglichkeitsbedingung …

Unter diesen veränderten Voraussetzungen vollzogen sich nun Gründung und Aufstieg einer neuen Partei, die dem Establishment der „Altparteien“ entgegentrat: Sie wurde ursprünglich gegründet als Ein-Themen-Protest-Partei gegenüber rezenten Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union; sie nutzte gezielt durchaus auch populistische Anklänge in ihrer politischen Rhetorik; sie lehnte das „Gendern“ konsequent ab; und sie hatte mit rechtsradikalen Elementen in der eigenen Organisation zu kämpfen. Die Rede ist freilich von der Piratenpartei.

Die Piraten etablierten sich seit ihrer Gründung 2006 als Ausfluss einer sozio-kulturellen Bewegung, und als Partei haben sie gewissermaßen diese Bewegung gebündelt. Ihr wesentlicher Beitrag bestand in der Einführung des Konzepts der liquid democracy, einer sog. „Verflüssigung“ des politischen Prozesses zugunsten direktdemokratischer Ansätze gegenüber der etablierten repräsentativ-parlamentarischen Demokratie.

Dieses Konzept der liquid democracy lässt sich in seinem Wesen wiefolgt charakterisieren:

  • Die demokratische Willensbildung setzt auf unmittelbare und spontane wie permanente Willensäußerungen, die zu jeder Zeit nach je eigens gewählten Bedingungen angepasst, verändert und widerrufen werden können.
  • Demokratietheoretisch erhält damit die Identitätstheorie einen klaren Vorzug gegenüber der Konkurrenztheorie; springender Punkt ist eine ungebundene und uneingeschränkte Vergabe und Rücknahme von Delegierung, die sich zudem transitiv verhält, womit ein Delegierter den ihm gegebenen Auftrag wiederum weiter übertragen kann.
  • Bezogen auf demokratische Strukturen und Prozesse bedeutet dies die radikale, d.h. von der Wurzel (lat. radix) ausgehende Aufhebung bzw. Unterminierung der institutionalisierten Grenze zwischen Entscheidungskompetenz und Kompetenzkompetenz, also zwischen Sachfragen und Verfahrensfragen.

Was die Piraten mit dem Konzept der liquid democracy etablierten, war letztlich nicht nur der abstrakte Anspruch, sondern die konkrete praktische Erfahrung (partei-intern) bzw. Beobachtung (von außen), dass man a) als einzelner Akteur im politischen Prozess ein erteiltes Mandat jederzeit wieder zurücknehmen und damit qualitativ größere Macht ausüben kann als in der parlamentarischen Demokratie, sowie dass man b) als einzelner Mandatsträger ein sog. „Superdelegierter“ sein, das heißt: ein vielfach größeres Stimmgewicht erhalten und damit im Vergleich zur peer group eine entsprechend größere demokratische Macht besitzen kann. Das markiert einen wesentlichen Unterschied zu tradierten direkt- und basisdemokratischen Ansätzen in der Bundesrepublik.7

Die Piraten boten insofern nicht nur nach ihrem eigenen Selbstverständnis kein bloßes politisches Programm an, sondern ein neues politisches „Betriebssystem“. In diesem Sinne hat die Partei in den Jahren 2011/2012 bedeutende Wahlerfolge eingefahren, und dabei den Zeitgeist zweier im selben Zeitraum durchgeführter Volksentscheide nicht nur getroffen, sondern gebündelt und bei Landtagswahlen8 in politisches Kapital umgewandelt:

Zum einen steht der Volksentscheid aus dem Jahre 2010 zum Rauchverbot in Bayern,9 welcher direkt und unmittelbar ein Gesetz der zuvor frisch gewählten Landesregierung wieder kassiert hat. Das kann für sich genommen noch weitgehend im Rahmen der gegebenen demokratischen Verfahren verortet werden, auch wenn hier erstmals bei einem Volksentscheid der Gesetzentwurf eines Volksbegehrens gegen die geltende Rechtslage stand. Zum anderen steht allerdings die 2011 in Baden-Württemberg durchgeführte Volksabstimmung zum Bauprojekt „Stuttgart 21“, die nach dem Baubeginn 2010 – als die Sache konkret erfahrbar wurde – etwas revidieren sollte, das im Verlauf dreier Landtagswahlen vor Baubeginn (1996, 2001, 2006) – als die Sache bloß abstrakt war – kein prominentes oder irgendwie entscheidendes Wahlkampfthema darstellte. Das verlässt den üblichen Rahmen des demokratischen Verfahrens wie es bislang in der Bundesrepublik üblich war.

In beiden Volksentscheiden hat der direktdemokratische Ansatz ganz praktisch erfahrbar über die repräsentative Demokratie triumphiert: Die Identitätstheorie hatte sich gegen die Konkurrenztheorie durchgesetzt, und das im Sinne einer Revidierung eigener Entscheidungen zu eigenen Bedingungen; die etablierte Demokratie wurde konkret erfahrbar „verflüssigt“.

Politik ist in der liquid democracy letztlich weder Kunst noch Handwerk, sie ist auch und vor allem keine Pflicht, sondern Politik wird zur direkten Erfahrung: namentlich zur Erfahrung von Macht. Konkret geht es um die Erfahrung von Macht-ausübung, von Er-mächtigung und Ent-machtung; dies nicht bloß allgemein, abstrakt oder generisch wie beim Ausfüllen eines Wahlzettels in der parlamentarischen Demokratie, sondern es ist eine besondere, konkrete und individuelle Mitmach-Erfahrung innerhalb einer Bewegung.

Auf diese Weise ist letztlich Macht-Politik im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich als Selbst-Ermächtigung (empowerment) und Entmachtung des anderen, in den Hauptstrom des politischen Diskurses gelangt. Dies geschah in „rituell zulässiger“ Art und Weise: zuvorderst eben als politisches „Betriebssystem“ einer Partei, die eine Bewegung fokussiert. Deren professionelle und telegene Aushängeschilder konnten und durften für dieses Konzept z.T. sehr niederschwellig nicht nur in den „neuen“ („sozialen“) Medien, sondern auch und gerade in bereits etablierten medialen Erzeugnissen werben, während die regressiven und problematischen Elemente der Bewegung in der Breite eher abgetan, marginalisiert und nicht so recht ernst genommen wurden.

In diesem Lichte wird nun ein wesentlicher Unterschied zwischen der Partei „Die Freiheit“ und der AfD sichtbar: „Die Freiheit“ agierte noch vor dem großen Erfolg der Piratenpartei, und sie folgte noch ganz der „alten“ Logik des politischen Prozesses. Die AfD hingegen wurde nach dem Erfolg der Piraten überhaupt erst gegründet. Die Piratenpartei lässt sich, umgekehrt, in diesem Lichte als so etwas wie ein „Türöffner“ für die AfD begreifen; nicht notwendig in programmatisch-inhaltlicher Hinsicht, aber eben hinsichtlich des „Betriebssystems“, hinsichtlich der Macht-Politik, die letztlich prägend für die gesamte „Berliner Republik“ werden sollte, insofern Bedeutung und Aktionismus politischer Bewegungen massiv zugenommen haben: von *GIDA über *FF bis hin zu „Querdenken“ und der sog. „Letzten Generation“ waren es Bewegungen, die den politischen Diskurs der Bundesrepublik seit der Mitte der 2010er Jahre maßgeblich geprägt haben. Politische Bewegungen setzen wiederum auf direkte Macht-ausübung, auf unmittelbare Willensäußerung, auf das Zusammenfallen von Sach- und Verfahrensfragen.

… und eine Art Pfadabhängigkeit

Darum lässt sich nach den Wahlerfolgen der Piratenpartei durchaus so etwas wie eine Art von Pfadabhängigkeit erkennen:

Die ursprüngliche Offenheit des Systems ließ zu, dass sich eine neue politische Kraft etablieren konnte, die zugleich das System selbst beeinflusst hat. Im Windschatten der ursprünglich erfolgreichen Partei trat eine politische Kraft hinzu, die sich letztlich durchsetzen konnte, weil sie mit dem richtigen „Brot und Butter“-Thema den erfolgversprechenderen Nerv der Zeit getroffen hat.

Herkommend aus der seinerzeit neuen „Internetkultur“ vor allem technikaffiner junger Männer, haben die Piraten ganz im Sinne der Logik einer politischen Bewegung durchaus versucht, im Angesicht institutioneller Ohn-macht eine Art von Furcht positiv zu kanalisieren; namentlich die Furcht gegenüber dem Fremden aus der Amtsstube in Brüssel, in Berlin, oder in München, gegenüber dem Fremden aus dem Parlament, aus dem Ministerium, aus der Parteizentrale, dem Fremden aus der Lobby oder dem Fremden aus der Kanzlei, kurzum: gegenüber dem Fremden, der an „unsere“ Daten wolle. Was hierbei jedoch ein eher abstrakter und unbekannter Fremder war und blieb,10 der im Apparat der Bürokratie sein Zahnrädchen bewegt und damit die informationelle Selbstbestimmung des ohnmächtigen Bürgers zersetzt, wurde im Windschatten des Erfolgs identitätspolitisch aufgeladen.

Die AfD war von Anfang an ebenfalls in den damals neuen („sozialen“) Medien sehr aktiv und setzte zunächst auf eine Kanalisierung der Furcht vor dem konkreten Fremden aus Griechenland, der an „unser“ Geld wolle. Die Partei hat zunächst hier einen Hebel gefunden, um ein Gefühl der Ohn-macht ihrer potenziellen Wählerbasis anzusprechen und in Wahlerfolge zu übersetzen: Bei der Bundestagswahl 2013 aus dem Stand nur ganz knapp an der Sperrklausel gescheitert, schaffte sie 2014 neben dem Einzug in das Europaparlament auf Anhieb den Sprung in drei Landesparlamente, 2015 folgten zwei weitere Landtage. Nach dem Ausbooten des Parteigründers Lucke dockte die AfD als Resultat eines innerparteilichen Richtungsstreits vollends an die *GIDA-Bewegung an und fokussierte sich zunächst auf den konkret sichtbaren Fremden aus dem Morgenland, der an „unsere“ Werte wolle, ehe es bedingt durch den innerparteilichen Siegeszug der nationalistischen und völkischen Kräfte nach und nach um den ebenfalls konkret erfahrbaren Fremden aus Afghanistan, Somalia oder Syrien ging, der an „unsere“ Identität wolle und die kulturelle Selbstbestimmung des einfachen Bürgers bedrohe.

Im Verlauf dieser Entwicklung konnte die Partei letztlich ihre eigene Macht-Politik entfalten und dabei auf neu etablierte Selbstverständlichkeiten setzen: von den *GIDA-„Montagsdemonstrationen“ über die Wahlkampfrhetorik einer sog. „Wende 2.0“ und dem Fiasko mit Besuchern der AfD-Fraktion im Bundestag im November 2020, die ganz im Sinne einer Mitmach-Erfahrung den gewählten Abgeordneten der anderen gefühlt die Macht entreißen konnten, bis hin zu Wahl- und Umfrageerfolgen als mitunter stärkste Partei. Dahinter steht eine Erzählung, welche die eigene „Volkstümlichkeit“11 nicht nur im Allgemeinen gegen „die anderen“, sondern auch im Besonderen gegen „die Mächtigen“ und „die Eliten“ in Stellung bringen möchte, um einen demokratischen Prozess ganz im Sinne der Identitätstheorie umzusetzen: als intuitiv einsichtige, unmittelbare Willensäußerung und direkte Machtausübung, die nicht durch formell-abstrakte Verfahrensfragen beschränkt wird.

Der Erfolg der AfD scheint also letztlich darin zu liegen, dass sie das „Betriebssystem“ der „Berliner Republik“ zu bedienen weiß.


Fußnoten:

  1. Ob die Klassifizierung als „rechts“ nun umgangssprachlich, auf Grundlage der parlamentarischen Sitzordnung, analytisch oder aktivistisch vorgenommen wird, ist an dieser Stelle zunächst nachrangig. ↩︎
  2. Von „Patrioten“, „National-orientierten“ oder gar „Nationalen“ ganz zu schweigen. ↩︎
  3. Der Begriff ist zwar ursprünglich deckungsgleich mit dem sog. „Ordoliberalismus“ der Freiburger Schule der Nationalökonomie, und er hat im Konzept der „sozialen Marktwirtschaft“ politische Gestalt gewonnen. Allerspätestens seit dem Jahrtausendwechsel erhielt der Ausdruck jedoch noch eine zweite Bedeutung bzw. erfuhr einen Bedeutungswandel in der öffentlichen Diskussion, der ihn in der Nähe der Chicagoer Schule um Milton Friedman verortet. ↩︎
  4. Die Bundestagswahl fand im September 2009 statt, die Parteigründung vollzog sich im Oktober 2010. ↩︎
  5. Nämlich an der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im September 2011. ↩︎
  6. Hohmann kehrte als AfD-Mitglied 2017 in den Bundestag zurück. ↩︎
  7. Besonders stechen hier die frühen Grünen mit ihrem „Rotationsprinzip“ hervor: Dieser Ansatz war darauf bedacht, die Grenze zwischen Entscheidungskompetenz und Kompetenzkompetenz penibel zu schützen, indem erstere durch eine rigorose Auffassung der zweiteren so klein bzw. beschränkt wie möglich gehalten werden sollte. Die Grünen waren, als neue Partei, in diesem Punkt von Beginn an also sehr viel näher am parteipolitischen Establishment als die Piraten; mithin womöglich ein Grund, warum das „Rotationsprinzip“ fallen gelassen wurde, nachdem die Grünen ihre ersten Ämter und Mandate in den demokratischen Institutionen erhalten haben. ↩︎
  8. Berlin 2011: 8,9%; Nordrhein-Westfalen 2012: 7,8%; Saarland 2012: 7,4%; Schleswig-Holstein 2012: 8,2%. ↩︎
  9. Initiiert und vorangetrieben wurde dieser Volksentscheid durch die ÖDP, also eine andere nicht zum politischen Establishment gehörende Partei. ↩︎
  10. Mit einem Augenzwinkern hat Benjamin von Stuckrad-Barre 2012 in einer Ausgabe seiner „Late Night“-Sendung mit Marina Weisband den herkömmlichen „Glaeseker-Politiker“ mit dem von den Piraten propagierten neuen und verbesserten „gläsernen Politiker“ kontrastiert ↩︎
  11. Gemeint ist hier eine Entsprechung zur russischen народность (narodnost), die in Verbindung mit „Autokratie“ und „Orthodoxie“ die russisch-zaristische Staatsdoktrin seit Nikolaus I. bestimmte. Der Begriff zielt auf eine Verwurzelung in der „Kultur des einfachen Mannes aus dem Volk“, aus dessen Identität der Staat letztlich seine Identität bezieht. ↩︎

Schreibe den ersten Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert