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Zur Ehrenrettung des Johannes Duns: „actus purus“ UND „potentia absoluta“

Obwohl ich mich selbst nicht dem Scotismus zurechnen oder als dezidierter Anhänger des Seligen Johannes Duns Scotus bezeichnen würde, erscheint es mir dennoch erforderlich, den doctor subtilis gegenüber der jüngsten Einordnung des von mir hochgeschätzten Aquinatum ein klein wenig in Schutz zu nehmen. Dabei geht es mir vor allem um drei Dinge: zunächst um die jeweilige Traditionstreue bei Aquinas und Duns; dann um Duns als Ausgangspunkt einer eigenen Traditionslinie; schließlich um das Konzept der potentia, das den inhaltlichen Kern des verlinkten Beitrags ausmacht.

Thomas von Aquin und Johannes Duns

Mit Josef Pieper lässt sich aus guten Gründen sagen, dass Thomas von Aquin trotz seines engen Bezuges zu Aristoteles kein „Aristoteliker“ wurde. Tatsächlich ließe sich das Argument aufziehen, dass andere Granden der mittelalterlichen Philosophie im Vergleich zu Thomas sehr viel gelehrigere Aristoteliker waren – allen voran Maimonides und Averroës aus der jüdischen bzw. islamischen Philosophie, am Ende aber auch christliche Denker wie Siger von Brabant.1 Es scheint mir insofern schwierig, den Aristotelismus exklusiv mit der thomasischen (auf Thomas selbst bezogenen) bzw. thomistischen (auf Thomas‘ Schul-Tradition bezogenen) Philosophie bzw. Theologie zu identifizieren oder Unterschiede zwischen Scotismus und Thomismus als Abweichungen seitens Duns bzw. des Scotismus vom Aristotelismus selbst zu framen, um so den damit angezeigten Traditionsbruch zur Grundlage oder zum Rahmen einer Kritik zu machen. Duns und der Scotismus bieten eine eigene Auslegung des aristotelischen Erbes an. Die mag sich zwar von der Auslegung im Fahrwasser von Thomas und dem Thomismus oder Siger und dem Averroismus unterscheiden; sie stellt aber doch einen ebenso vollwertigen Teil der aristotelischen Tradition dar.

Ein schönes Beispiel zur Illustration der Traditionstreue gibt dabei Aquinatum selbst mit dem Hinweis auf die Annäherung an das Gottesbild des Islam, die (einseitig?) mit Duns und Ockham verknüpft wird:

In seiner Summe der Theologie bietet Thomas von Aquin fünf Wege auf, um die Existenz Gottes zu demonstrieren. Der dritte Weg behandelt den Beweisgang e possibili et necessario, und dieser greift inhaltlich ein Argument auf, das auf den islamischen Philosophen Avicenna zurückgeht; demnach wird Gott als der nicht-kontingente Grund des kontingenten Seins begriffen. Dieses Verständnis der Chiffre „Gott“ führt Avicenna, einer der einflussreichsten Denker der islamischen Geistesgeschichte, überhaupt erst in den theologischen Diskurs ein, und es unterscheidet sich durchaus vom klassisch-aristotelischen Verständnis: Dieses zeigt sich nämlich vor allem im berühmt gewordenen Argument von Gott als dem unbewegten Bewegenden, aber auch im bspw. von Thomas selbst in seiner Schrift De ente et essentia entwickelten Argument, das letztlich in den zweiten der fünf Wege geflossen ist.
Zugleich verwirft Thomas in seiner Summe der Theologie (wie zuvor schon in seiner Summe wider die Heiden) das unum argumentum des Anselm von Canterbury, das man wiederum als einziges originär christliches Argument für Gottes Existenz einordnen kann.

Duns hingegen legt, ganz im Sinne der franziskanischen Tradition insgesamt,2 durchaus Wert auf das unum argumentum, das später als das „ontologische“ bezeichnet wurde; zugleich entwickelt er (s)eine eigene Variante des aristotelischen Arguments einer ersten Ursache.

Eine Annäherung an das Gottesbild des Islam findet sich so gesehen eigentlich schon mit und bei Thomas. Der extreme Voluntarismus, der uns sowohl in der islamischen Geistesgeschichte als auch im Fahrwasser der Reformation begegnet, ließe sich so zunächst auch primär als Reaktion auf die übliche Kritik an Avicennas Ansatz begreifen: demnach würde bei Gott als notwendigem Grund in Beziehung zum kontingenten Sein keine Freiheit im Akt der Schöpfung bestehen. Der Voluntarismus kann dabei einen Ausweg aus dieser Kritik bieten, indem er z.B. den unumschränkten Willen mit der göttlichen Natur selbst identifiziert.

Johannes Duns und Wilhelm von Ockham

Im bei Aquinatum konkret verlinkten Bezug3 wird als Name nun nicht Johannes Duns, sondern Wilhelm von Ockham genannt – und das ergibt im Lichte der präsentierten Argumentation (sowohl in der verlinkten Zusammenfassung als auch bei Aquinatum selbst) auf der einen Seite etwas mehr Sinn. Auf der anderen Seite scheint es mir allerdings problematisch, statt Duns und Ockham nun eben nur noch Ockham gewissermaßen als den bad guy in der Philosophiegeschichte herzunehmen und ihm explizit oder implizit die Verantwortung für Fehlentwicklungen in der Moderne anzulasten. Vom Werk eines Denkers unterscheidet sich dessen Wirkungsgeschichte, und zwischen beidem besteht meines Erachtens sowohl bei Duns als auch bei Ockham eine gewisse Kluft: Fehlentwicklungen, die gemeinhin mit der Wirkungsgeschichte verbunden werden, begründen nicht notwendigerweise auch eine Kritik am Werk selbst. Gerade in Bezug auf Ockham spricht bspw. der Kirchenhistoriker Volker Leppin davon, dass sich die Wirkungsgeschichte eher auf eine „Benutzung“ statt auf eine „Wirkung“ seines Œuvre stütze. Und auch wenn Duns die Schuldoktrin der Franziskaner so maßgeblich geprägt hat wie der Scotismus vor dem römischen Förderprogramm zur Neuscholastik mehr Anhänger als der Thomismus hatte, liegt der Einfluss von Duns Scotus doch primär in seiner Anwendung der scholastischen Methode, während der Einfluss des Thomas sich viel stärker aus seinen Inhalten ergibt.4

Natürlich gibt es zwischen Johannes Duns und Wilhelm von Ockham Gemeinsamkeiten: Sowohl Duns als auch Ockham gehörten zum Franziskanerorden; beide haben in Oxford studiert; beide werden in der Universalienfrage gemeinhin ganz gerne nicht zu demjenigen Lager gezählt, das mit dem Namen „Realismus“ verbunden ist.

Allerdings ist beider Theologie bzw. Philosophie nicht identisch, auch wenn Ockham sowohl methodisch als auch inhaltlich auf Duns aufbaut.

Wilhelm von Ockham kann aus guten Gründen dem Nominalismus zugerechnet werden. Duns hingegen gehört durchaus auf die Seite des Universalienrealismus. Er bietet seinerseits jedoch gewissermaßen das sprach-logische Gegenstück zum seins-logischen Kern des „gemäßigten Realismus“, den ein Thomas von Aquin vertreten hat. Duns betont in theologisch-philosophischen Fragen epistemo-logische Erwägungen mehr als Aquinas und Bonaventura, die beide stärker onto-logisch verankert sind.

Dem gegenüber reduziert Ockham radikal (d.h. von der Wurzel her) auf die epistemologische Ebene, indem er bestreitet, dass Universalien außerhalb des erkennenden Verstandes überhaupt real sein können. Dennoch wäre es ebenso bei Ockham verkehrt, die Verknüpfung zwischen dem erkennenden Verstand und der erkannten Welt als vollständig aufgelöst zu bezeichnen: Die Ordnung der Namen und Begriffe kann auch bei ihm etwas über die Ordnung der Welt aussagen, und entsprechend finden wir in seinem Werk noch keinen „Willkürgott“ (Hans Blumenberg).

Es scheint mir insofern problematisch, von der Wirkungsgeschichte Ockhams (und darüber hinaus) auf das Werk von Duns zu schließen.

Thomas von Aquin und die potentia

Es stimmt ohne jeden Zweifel, dass das Verständnis Gottes als actus purus eine besondere Rolle in der Philosophie bzw. Theologie des Thomas von Aquin spielt; dies zeigt sich nicht nur in seinem „Lieblingsargument“ vom unbewegten Bewegenden, sondern es stellt einen (wenn nicht den) Kerngedanken der Einfachheit Gottes dar. Entsprechend deutlich stellt Thomas auch fest, dass es in Gott keinerlei potentia geben kann:

Ostensum est autem quod Deus est purus actus, non habens aliquid de potentialitate.
– Es ist aber dargelegt worden, dass Gott (der) actus purus ist, (und) keinerlei potentia hat.5

In diesem Sinne ist Aquinatum bedingungslos zuzustimmen: Gemäß Thomas von Aquin besteht in Gott keinerlei Mangel, keinerlei Zusammensetzung, keinerlei Potenz, vollkommene Fülle; denn Gott ist purer Akt, reine Wirklichkeit.

Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass Thomas zwischen zwei Arten von potentia unterscheidet:

  • Einerseits steht die potentia passiva, das „passive“, erleidende Vermögen, oder die Fähigkeit, von einem anderen aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit überführt zu werden.
  • Andererseits steht die potentia activa, die „aktive“, tätige Wirkmacht, oder die Fähigkeit, ein anderes aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit zu überführen.

Thomas argumentiert klar: Die potentia passiva finden wir in keinerlei Art und Weise bei bzw. in Gott vor, denn sie stellt ein Korrelat von Unvollkommenheit dar. Die potentia activa hingegen muss Gott im allerhöchsten Maße zugeschrieben werden, denn sie entspricht seinem Wesen als reine Wirklichkeit, seiner einfachen und allumfassenden Vollkommenheit: Die aktive Wirkmacht gründet in einem im Akt Seienden, und weil Gott der reine Akt ist, entspricht ihm auch die reine potentia activa.6 In diesem Lichte wird der Mangel vollständig aus dem Wesen Gottes ausgeschlossen. Zugleich wird jedoch Gottes Wirken und Tätigsein als wesentlich (an)erkannt. Zur vollkommenen Unbestimmtheit (bzw. unvollkommenen Bestimmtheit), bei der Aquinatum zurecht darauf verweist, dass sie dem Wesen nach der materia prima, dem Urstoff, zukommt, gehört die potentia passiva ebenso wie zu allen (anderen) materiellen und zusammengesetzten, unvollkommenen und endlichen Gegenständen bzw. Sachverhalten.

Johannes Duns und die potentia absoluta

Inhaltlich teilt Duns dieses Verständnis von passivem Vermögen und aktiver Wirkmacht, das im Begriff der potentia steckt, denn auch bei ihm ist Gott erstes Wirkfähiges und notwendiger Urgrund des kontingent Seienden. So gehört denn auch die potentia absoluta logischerweise zur göttlichen Wirk-Fähigkeit: Die potentia absoluta beschreibt gerade kein von allen Faktoren losgelöstes Vermögen einer unbestimmten göttlichen Realität, von der Möglichkeit in die Wirklichkeit gebracht zu werden; sie beschreibt ganz im Gegenteil die von allen (äußeren) Beschränkungen losgelöste göttliche Wirk-lich-keit selbst, und das im wahrsten Sinne des Wortes.

Was meint Duns nun aber konkret damit? Letztlich handelt es sich bei der potentia absoluta um eine Bedingung der Möglichkeit dafür, den Begriff der „möglichen Welten“ überhaupt denken zu können, der später in der modernen Modalmetaphysik eine Rolle spielt.

Nach Duns besteht die höchste Form des Wollens in der Liebe zu einem Gegenstand um seiner selbst willen. Dies ist jedoch nur in Bezug auf das unendlich Seiende, das per se mit dem unendlich Guten konvertibel ist, notwendig. Das heißt: Im strengen Sinne ist ausschließlich die Gottesliebe notwendig, also auch die Liebe Gottes zu sich selbst; die Liebe Gottes ad extra, d.h. zu etwas anderem als sich selbst, ist insofern zumindest nicht in diesem strikten Sinne notwendig und damit auf die eine oder andere Art und Weise kontingent. Die Kontingenz liegt jedoch nicht in Gott begründet, sondern in dem, was sich außerhalb Gottes befindet.

Diesem Verständnis des Willens-aktes entspricht auch ein Verständnis der Willens-äußerung: Mit Augustinus nimmt Duns an, dass Gott sich in Bezug auf seine Schöpfung stets mit recta ratio verhält, da er rationabilissime volens („in höchstem Maße vernünftig wollend“) ist. Dies äußert sich auf zweierlei Weise: in der potentia ordinata, der geordneten Wirkfähigkeit, und in der potentia absoluta, der absoluten Wirkmacht. Die geordnete Wirkfähigkeit bezieht sich auf eine konkrete allgemeine Ordnung der Dinge an sich und für sich sowie auf den besonderen Zusammenhang der in dieser Ordnung vorhandenen Elemente. Die absolute Wirkfähigkeit bezieht sich auf das Vermögen, in freiem Handeln jede Ordnung zu verfügen, d.h. als Ursprung jedweder Ordnung zu wirken.

Hierfür gibt es zwei beliebte Illustrationen: zum einen die auch von Duns selbst angestellte Überlegung zum Auftrag Gottes an Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern; zum anderen die Frage nach göttlichen Wundern. Der Opferauftrag an Abraham kann im Lichte der genannten Unterscheidung nun als Äußerung der potentia absoluta begriffen werden, d.h. als Ausdruck des göttlichen Vermögens, eine Ordnung zu setzen, in der der Opferauftrag keinen Widerspruch zu und Dispens von der bestehenden Ordnung bedeutet, die das Töten unschuldiger Menschen verbietet; so bleibt nämlich das „rechte Verhältnis“ zwischen dem „in höchstem Maße vernünftig wollenden“ Gott und seiner Schöpfung gewahrt. Wunder wiederum können in Kontrast zum klassisch-augustinischen Verständnis7 als Ausdruck des göttlichen Vermögens begriffen werden, eine ganz andere Natur-Ordnung erlassen zu können, in welcher das göttliche Zeichen keine Aufhebung bzw. keinen Widerspruch zur sinnlich wahrnehmbaren Ordnung bedeutet.8

In diesem Lichte betrachtet sagt die potentia absoluta am Ende mehr über die Welt als über Gott: Denn es geht nicht darum, dass Gott dieses oder jenes sein kann, sondern darum, dass die Welt ganz anders sein könnte als sie es realiter ist. Damit nimmt der Gedanke der potentia absoluta die ontologische Kontingenz der Schöpfung auf sehr radikale Art und Weise ernst und denkt sie zu Ende.

Bei Ockham findet dann eine Akzentverschiebung statt: Er verlegt die Konzeptionen der potentia ordinata und potentia absoluta von der realen und der möglichen Welt rein in den (logischen) Verstand. Während die Vermeidung von Widersprüchen zuvor noch ein Element im Verständnis der beiden Begriffe war, reduziert es sich bei Ockham auf das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch. Damit ist zwar bei Ockham noch kein Voluntarismus im Sinne bloßer göttlicher Willkür erreicht; gemeinsam mit Duns geht er davon aus, dass Gottes Handeln prinzipiell geordnet vonstatten geht. Der Tendenz nach erscheint die potentia ordinata bei ihm jedoch mehr wie eine bloße Erfüllungsgehilfin der potentia absoluta, in der sich das gesamte Handlungsvermögen Gottes konzentriert.

Insofern kann man zumindest Johannes Duns nicht vorwerfen, ein Vater der neuzeitlichen „Metaphysik des Mangels“ zu sein. Zugleich geht am Ende auch nicht ganz auf, den actus purus und die potentia absoluta gegeneinander auszuspielen: Es handelt sich nicht um zwei Konzepte, die auf derselben Ebene um dieselben Inhalte ringen. Ganz im Gegenteil handelt es sich um verschiedene Annäherungen an unterschiedliche Fragen zur letzten Realität.


  1. Eine so getroffene Einschätzung als Aristoteliker muss freilich unterschieden werden von einer Einschätzung als Theologe oder Philosoph. ↩︎
  2. Eine konzise Variante des Arguments wurde dabei von Bonaventura vorgelegt. ↩︎
  3. Es geht um die Zusammenfassung eines Kapitels aus dem Buch „The Politics of the Real“ von D.C. Schindler, die Edgardo Tenreiro auf Twitter „X“ präsentiert. ↩︎
  4. Was insofern als Beobachtung amüsant erscheint, wenn man bedenkt, dass der größte Erfolg von Duns bzw. des Scotismus in einer inhaltlichen Sache besteht, namentlich in der bejahenden Antwort auf die Frage nach der unbefleckten Empfängnis Mariens, die von Duns aus zur franziskanischen Schuldoktrin und schließlich zum katholischen Dogma avancierte. ↩︎
  5. STh. I Q. 3 a. 2 ↩︎
  6. ScG I, 16 und ScG II,7; STh I Q. 25 a. 1 par QDP Q. 1 a. 1 ↩︎
  7. Demnach sind göttliche Wunder eine besondere Fokussierung der natürlichen Wirkkräfte, die natürliche Zeitabläufe extrem komprimiert bzw. abkürzt. ↩︎
  8. Hier wäre festzuhalten, dass es zwar eine thomistische, aber keine im strengen Sinne aristotelische Erklärung für Wunder gibt: Der thomistische Ansatz, Wunder zu begreifen, setzt auf die göttliche Verfügungsgewalt über die Naturen bzw. Essenzen der Dinge, die entsprechend gelenkt werden. Dahinter steckt nicht das Gottesverständnis der aristotelisch gefärbten Argumente aus der Bewegung oder aus der Wirkursächlichkeit, sondern das Gottesverständnis e gubernatione rerum, das sich als sog. „teleologischer Beweis“ im fünften Weg aus der Summe der Theologie sowie als Schlussnotiz zu den Gottesbeweisen in der Summe wider die Heiden findet; Thomas selbst zitiert dazu Johannes von Damaskus und erkennt das Argument implizit bei Averroës. ↩︎

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