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Libertärer Ikonoklasmus: Wie man es besser (nicht) macht

Das öffentlich-rechtliche Format „DIE DA OBEN!“ hat jüngst ein 19 Minuten langes Video über den Libertarismus publiziert. Die Bedeutung von „Libertarismus“, die der unbedarfte Zuschauer daraus mitnimmt: „gegen Steuern und gegen den (ungerechten) Staat“. Die Moderatorin konstatiert zwar selbst, dass man „ziemlich tief in die Gedankenwelt der Libertären abgetaucht“ sei, doch am Ende scheint gerade das nicht der Fall. 

Von den  Klassikern des libertären Denkens wird einzig der Philosoph Robert Nozick erwähnt, und dies lediglich mehr oder minder beiläufig in Zusammenhang mit einer Frage, die selbst innerhalb des Libertarismus gegensätzlich diskutiert wird (nämlich: Darf man sich selbst zum Sklaven machen? bzw. allgemeiner: Darf man seinen eigenen Körper verkaufen?), wobei die innerlibertäre Debatte selbst schlicht unerwähnt bleibt. 

Im gesamten Video von 19 Minuten Länge findet sich jedoch sonst keinerlei Nennung von Denkern, auf die sich Libertäre typischerweise gerne und häufig beziehen: Über Ludwig von Mises, Murray N. Rothbard, Milton Friedman, Hans-Hermann Hoppe oder, gerade bezogen auf Deutschland, Roland Baader erfährt man nichts. Auch die Österreichische Schule der Nationalökonomie wird mit keiner Silbe erwähnt, obwohl sie aus libertärer Perspektive als „heterodoxer“ Ansatz in den Wirtschaftswissenschaften eine Schlüsselrolle spielt.

Ebenso unerwähnt bleibt das komplexe Verhältnis von Libertären zu zwei oftmals von außen pauschal der libertären Bewegung zugeschlagenen Denkerinnen: Einerseits ist dies Friedrich August von Hayek, der in libertären Kreisen nicht nur zustimmend betrachtet, sondern ganz gerne mit Etiketten bedacht wird, die von „neoliberal“ bis „sozialdemokratisch“ reichen. Andererseits ist dies Ayn Rand, deren Anhängerinnen ihre Weltanschauung des Objektivismus sehr häufig und vor allem leidenschaftlich gegenüber dem Libertarismus abgrenzen, weil dieser ihnen als inhaltlich defizitär und nicht kapitalistisch genug gilt. Von dieser Einordnung des Libertarismus zwischen Neoliberalismus und Objektivismus erfährt man im Video schlechthin gar nichts.

Keine Erwähnung findet weiters die libertäre Inanspruchnahme historischer Bezüge zum sog. „klassischen Liberalismus“, welche von der Schule von Salamanca in ökonomischer und John Locke in philosophischer Hinsicht bis hin zur amerikanischen Gründervätertradition rund um Thomas Jefferson in politischer Hinsicht reichen. Genannt wird lediglich Adam Smith mit dem zur Plattitüde gewordenen Konzept der „unsichtbaren Hand“ des Marktes, auf das sich jedoch alle Strömungen und Traditionen beziehen, die ein positives Verhältnis zu marktwirtschaftlichen Strukturen besitzen.

Dazu passt, dass im Video zwar erwähnt wird, die libertäre Bewegung sei zersplittert. Es bleibt jedoch vollständig unklar, wie, wo und weshalb die Bewegung denn konkret zersplittert ist. Wer durch die Darstellung des Videos seine ersten Berührungspunkte mit dem Libertarismus hat, der erfährt nichts von den Grundsatzdiskussionen hinsichtlich konventionsrechtlichen und naturrechtlichen Ansätzen oder hinsichtlich der Kontroverse zwischen anarchistischer und minarchistischer Ausrichtung. Ganz im Gegenteil wird der Libertarismus einseitig auf eine anarchistische Auslegung reduziert.

Damit einher geht wiederum eine Reduktion des Libertarismus auf den Grundsatz „der Markt regelt alles“. Doch es bleibt unklar, was das konkret bedeuten soll, denn der Markt wird seinerseits auf die eher diffuse Formel „Geld und private Verträge“ heruntergebrochen.
Keine Erwähnung finden indes die unterschiedlichen Konzeptionen dessen, was „Markt“ in einer libertären Perspektive überhaupt bedeuten kann: 

  1. Der „Markt“ als Instrument zur Ergebnisermittlung:
    Meist von einem überwiegend BWL-lastigen Hintergrund aus verwendet, geht es um eine Dichotomie zwischen „Markt“ und „Plan“ als Mittel zur Ergebnisfindung.
  2. Der „Markt“ als eigenständiger Akteur im Prozess der Güterallokation:
    Meist von einem überwiegend VWL-lastigen Hintergrund aus verwendet, geht es um eine Dichotomie zwischen „Markt“ und „Staat“ als Handlungsträger in der Ökonomie.
  3. Der „Markt“ als natürliche Form des zwischenmenschlichen Austauschs:
    Meist von sozialphilosophischem und politiktheoretischem Hintergrund aus verwendet, geht es um eine Dichotomie zwischen „Markt“ und „Gewalt“ als Rahmen für menschliches Verhalten.

Libertäre Diskurse sind immer auch ein Aushandlungsprozess zwischen diesen begrifflichen Modalitäten und Verständnisweisen.

Weiters gibt es im Video trotz des Verweises auf „Geld“ als Definitionsbestandteil von „Markt“ keine Erwähnung der Kontroverse zwischen neoklassischen und monetaristischen Ansätzen in der Geldtheorie. Neoklassisch in Anschluss an Ludwig von Mises ist die Geldmenge unerheblich; monetaristisch in Anschluss an Milton Friedman ist die Geldmenge jedoch der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Aus letzterem leitet sich die Vorliebe mancher Libertärer für Gold oder in jüngster Zeit auch für Kryptowährungen mit einem fixen Maximalbetrag ab; doch das ist letztlich keine notwendige Folge libertären Denkens. 

Aber selbst wenn so ein kurzer und oberflächlicher Überblick über die libertäre Gedankenwelt für ein 19 Minuten langes Video viel zu umfangreich sein sollte, wäre doch zumindest zu erwarten, dass das zentrale und wesentliche Element des Libertarismus explizit und namentlich zur Sprache kommt: das Prinzip der Nichtaggression (non-aggression principle, NAP). Und in diesem Zusammenhang könnte vielleicht auch das damit zusammenhängende Verständnis von Freiheit als „Recht, in Ruhe gelassen zu werden“ zumindest erwähnt werden. Denn erst daraus ergibt sich die libertäre Ablehnung des modernen Staates, der sich auf ein Gewaltmonopol stützt, sowie die libertäre Befürwortung des freien Handel(n)s auf dem Markt (und zwar in allen drei o.g. Bedeutungsvarianten).

Stattdessen wird das libertäre Freiheitsverständnis vorgestellt als unumschränkte Selbstbestimmung, als Egoismus („jeder soll und darf nur an sich denken“), als „Wunsch nach Anarchie“, als „Gesellschaft ohne Autoritäten“ und als „Ablehnung von Unterordnung“. So wird jedoch der gerade aus libertärer Perspektive betonte Unterschied zwischen Anarchie, i.e. ein sozialer Zustand ohne Herrschaft, und Anomie, i.e. ein sozialer Zustand gänzlich ohne Regeln, Gesetze oder Ordnung, unterschlagen.

Ein prominenter libertärer Ansatz setzt die sog. Privatrechtsgesellschaft (PRG) als positiven Gegenentwurf zur modernen Staatlichkeit. Dieser Aspekt libertären Denkens wird tatsächlich vorgestellt, denn das Video beschäftigt sich mit privat organisierten Stadtprojekten, die auf entsprechenden Überlegungen basieren. Dabei findet sich im Video die Behauptung, sozial Schwache seien in diesen Projekten „nicht vorgesehen“. Hierzu wird jedoch fatalerweise keine Illustration mit Blick auf die präsentierten libertären Projekte gegeben: Wie sieht denn die Verwaltung dort konkret aus? Wie ist dort konkret der Umgang mit sozial Schwächeren? Oder plump gefragt: Woran macht sich denn die im Video vorgebrachte Behauptung fest, dass sozial Schwache „nicht vorgesehen“ seien?

Die Darstellung des Videos suggeriert zumindest, dass diese libertären Stadtprojekte eine funktionierende Wertschöpfung aufgebaut haben könnten, da auf Zahlungen des Projekts „Próspera“ an den Staat Honduras hingewiesen wird. Ob diese Wertschöpfung nun aber dadurch bewerkstelligt wird, dass mit Bezug zum wie o.g. nicht erwähnten Hoppe unproduktive Glieder der Gesellschaft isoliert und entfernt werden oder wurden, bleibt das Video schuldig – eine verpasste Gelegenheit gerade im Lichte des doch eher kritischen Tons, den die Präsentation insgesamt besitzt.

Wenn das Video die Parteipolitik betrachtet, so findet sich kein einziges Wort zur (mittlerweile eingeschlafenen) Libertären Plattform innerhalb der (Regierungspartei!) FDP, zu möglichen Nachfolgenetzwerken in der Partei oder zumindest zur Verortung von Politikern wie zum Beispiel Frank Schäffler MdB, der seinerzeit im Umfeld der Libertären Plattform wirkte, auch wenn er nie Mitglied war, sondern den mehr auf Hayek fokussierten und mittlerweile als „inaktiv“ bezeichneten „Liberalen Aufbruch“ in der FDP mitgegründet hat. Stattdessen werden neben der unbedeutenden Splitterpartei „Die Libertären“ zwei Parteien in den Blick genommen, die sogar im Video selbst als nicht-libertär eingeordnet werden: PdV und AfD.

Die Verbindung zwischen AfD und Libertarismus wird indes über das Schlagwort „Kritik am Staat“ so deutlich wie undifferenziert gezogen. Schließlich lassen sich auf diese Weise alle politischen Akteure in einen Topf werfen, die im aktuellen politischen Diskurs Veränderungsbedarf monieren. Keine Erwähnung findet indes die politische Monatszeitschrift „eigentümlich frei“, obwohl hierüber sowohl in personeller als auch in inhaltlicher Hinsicht eine Verbindung gezogen werden könnte, und zwar zwischen genuin liberalen und libertären Ansichten sowie reaktionären, populistischen oder gar als neu-rechts eingeordneten Sichtweisen (vgl. hierfür beispielhaft die Einordnung der Zeitschrift bei Wikipedia).

Fazit: Wer sich das Video ansieht, der weiß am Ende zwar, dass aus Sicht der Moderatorin libertäre Ansichten kritikwürdig sind. Warum das so ist, wird in diesen 19 Minuten leider nicht so recht erklärt.

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