Das Interessante und zugleich Bedrückende an George Orwells „1984“: Die Überwachung ist eigentlich nicht das Problem. Sie ist noch nicht einmal das zentrale Element des totalitären Staates, im Gegenteil. Sie ist eine technische Annehmlichkeit, ein praktischer Luxus, aber nicht essentieller Bestandteil des Systems. Die Überwachung kommt hinzu, sie konstituiert nicht, sie ist ein Epiphänomen des totalitären Staates, nicht dessen Grundlage. Das zeigt sich auch darin, dass Winston der Überwachung relativ leicht ausweichen kann sofern er das beabsichtigt, und dass vier Fünftel der Bevölkerung (die Proles) von der (technischen) Überwachung unbehelligt bleiben.
Insofern würde ich sagen, dass jeder, der mit „Orwell“und „1984“ kommt, um auf einen Überwachungsstaat zu verweisen, am Punkt dieser Dystopie vorbei zielt. Vielleicht sogar mehr noch: Die Überwachung ist ein Manöver, um vom eigentlichen Kern abzulenken. Salopp gesagt fallen die, denen es bei 1984 auf die Überwachung ankommt, auf die Propaganda des „Großen Bruders“ herein, sie werden davon in die Irre geführt.
Das zentrale Element, das große Problem, das essentielle Programm des Ingsoc ist nicht die Überwachung, sondern das Abschneiden, das Entkoppeln des Menschen von seiner eigenen Innerlichkeit.
Geschichte ist nicht mehr, wie im z.B. Historismus, Ausdruck des inneren Willens und Wesens, kein „Komplex von Willensakten“ (Droysen); sie ist gemäß HistoMat und Positivismus objektiver Ausdruck der Verhältnisse. Die Gegenwart ist nicht mehr kontingent zur notwendigen Voraussetzung der Vergangenheit, sondern die Vergangenheit ist notwendige Folge der Gegenwart. So verliert der Mensch sein Geworden-Sein, damit seine Identität. Der gegenwärtige Mensch wird so von seinem Wesenskern, der diesem immer vorausgeht, abgeschnitten.
Höhepunkt dieses Programms ist das Vaporisieren von Personen: Der Mensch stirbt nicht nur (wodurch er Erinnerung bliebe), und er verendet auch nicht einfach (wodurch er zumindest als existent-gewesen anerkannt würde), sondern er wird gänzlich aus der Welt getilgt, er hat demnach nicht einmal zu existieren begonnen (der „Große Bruder“ ist insofern the murderer from the beginning).
In der Welt von „1984“ ist der Mensch weder Gedächtnis noch Erinnerung, weder Inwendig-Sein noch Inwendig-Werden. Er ist nurmehr Äußerlichkeit, eine Instanz besonderer Verhältnisse, Oberfläche in Verhältnis zu anderen Oberflächen, er ist nicht einmal ein Effekt (denn das würde eine Causa voraussetzen, und damit etwas, das er in sich trägt), nicht einmal organisierte Biomasse oder epigenetischer Ausfluss der Evolution (das würde ihm ebenfalls einen Grund oder eine Ursache verleihen, die er in sich trägt). Er ist nur noch Phänomen, nicht einmal Epiphänomen.
In diesem Zusammenhang steht auch das Newspeak. Es soll das Äußere vom Inneren abschirmen. Es soll nicht so sehr bestimmte Gedanken verhindern, sondern viel mehr dafür sorgen, dass das Gesprochene kein Ausdruck ist, also nichts, das von innen nach außen gebracht wird. Es soll verhindern, dass dem Denken ein Handeln (Sprechakt) entspricht. Das geschieht nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch auf sozialer, zwischenmenschlicher, gesellschaftlicher Ebene: Die Proles verstehen diese Sprache nicht, und die Newspeak-Sprecher werden über kurz oder lang die Proles nicht verstehen, so dass dem sprachlichen Aus-druck kein innerer Ein-druck entsprechen kann. Selbiges gilt dann auch auf historischer Ebene: Der Mensch kann die Geschichte nicht mehr verstehen, sofern sie nicht ins Newspeak übersetzt wurde. Damit ist die Geschichte nicht nur kein Ausdruck menschlicher Innerlichkeit, sondern Nicht-Wirklichkeit: Sprache, Denken und Wirklichkeit sind vollends und vollkommen voneinander getrennt, nichts davon korrespondiert miteinander.
Das ist die große Un-Sicherheit, in der sich die Menschen aus „1984“ befinden, das ist die Menschen-verachtung, Un-Menschlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes, die dabei vor sich geht: In Orwells Dystopie gilt weder das cartesianische cogito ergo sum, noch gilt das augustinische per hoc sum si fallor, denn in dieser Welt gibt es nichts, durch das der Mensch seiner selbst habhaft werden, nichts, durch das er seiner eigenen Existenz sicher sein könnte. Es ist die totale Desubstanziation.
„1984“ ist ein Ort ohne Gerechtigkeit, ohne Wahrheit, ohne Wirklichkeit, ohne Schönheit, ein Ort, der offen dazu steht, den Menschen kaputt machen zu wollen um des Herrschens Willen – ein Ort ohne Gott, ein Ort ohne Hoffnung, ohne Liebe.
Es regiert der „Große Bruder“, eine Nicht-Person (Un-Person), auf die genau das passt, was Ratzinger zur Frage der Personalität des Teufels geschrieben hat. „Big Brother“ ist der Widersacher des Personseins, der Durcheinanderwerfer dessen, was einmal Wirklichkeit war, der Mörder von Anfang an, der Ankläger, die Bestie in menschlicher Maske, der falsche Prophet.
Der Terror, den Orwell beschreibt, ist ewig. Hervorragend allegorisiert durch das künstliche Licht im Ministerium für Liebe (und ähnlich wie bei Sartres geschlossener Gesellschaft, wo die Hölle auch von dauerhaftem Kunstlicht erhellt wird), das jegliches natürliche Zeitgefühl eliminiert; aber tatsächlich hat der Ingsoc die Zeit überhaupt abgeschafft, und das macht das Leiden in diesem System, das macht diesen Ort zeitlos, maßlos, ewig.
Bis zu Winstons Verhör ist die totale Überwachung des Staates eigentlich nur ein Gerücht; etwas, das die Leute annehmen und das Konformität erzeugt, für das (dem Leser) aber kein wirklicher Beleg gegeben wird. Sehr viel realer ist die Denunziation der Erwachsenen durch ihre eigenen Kinder.
Den ersten echten Beweis für Überwachung gibt es, wenn Winston festgenommen wird. Da war er aber schon bei O’Brien und hat seine Absicht bekannt. Beim Verhör werden ihm dann Dokumente vorgelegt, die zeigen sollen, dass er schon 7 Jahre überwacht wurde. Allerdings ist dies bereits Teil seiner Umerziehung, durch die er die Allmacht des „Großen Bruders“ lernen soll. Den ganzen Roman über ist die Veränderung der Vergangenheit ein Thema, und Orwell betont, wie geschickt und genau Fotos usw. gefälscht werden: Warum sollte man da (als Leser) ausgerechnet den staatlich produzierten Überwachungsdokumenten glauben?
Es scheint mir tatsächlich möglich, dass der Staat in „1984“ überhaupt nichts oder nur ganz wenig überwacht bzw. dass z. B. die Teleschirme gar keine Kameras beherbergen – dass quasi alles auf der Vermutung der Bevölkerung basiert, da würde ständig jemand zusehen. Eine Vermutung freilich, die durch die Propaganda genährt wird.

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