Lebensschutz ist recht eigentlich kein Wert, sondern ein Teil des Personalitätsprinzips – namentlich beschreibt er die (Anerkennung der) Einheit der Person, die (wenn sie zu einem bestimmten Zeitpunkt Schutz verdient, dann) per se schutzwürdig ist, womit sich die Schutzwürdigkeit vom Tritt ins Dasein an ergibt.
Der Lebensschutz wird gelegentlich zwar als Wert propagiert, doch das halte ich recht eigentlich schon für das Problem und nicht für einen gangbaren Weg. Denn natürlich gibt es historisch geformte Antriebe, Abtreibung abzulehnen: sei es nun zum Zweck der Erhaltung bestimmter Strukturen, sei es zum Zweck der Durchsetzung bestimmter anderer Werte. Und das ist im Sinne einer möglichen Interessenüberschneidung auch im Grunde positiv. So wie es insgesamt ja auch nicht darum geht, das historisch Bedingte abzuwerten oder geringzuschätzen, ganz im Gegenteil. Hier besteht die Möglichkeit für Anschlussfähigkeit.
Dass Lebensschutz aber eben nicht gleich Lebensschutz ist, zeigen überdeutlich und beispielhaft die dann und wann stattfindenden Anschläge auf Kliniken und Ärzte, die Abtreibung durchführen. Solch ein Verweis mag extrem und/oder überzogen wirken; er illustriert den Sachverhalt aber ganz gut: Denn hier setzt etwas an, das sich als „Kuhhandel“ bezeichnen lässt. Radikaler und weniger konziliant ausgedrückt begeben wir uns hier in eine Gesinnungsethik hinein, die schlechte Dinge toleriert oder akzeptiert, so lange sie von jemandem getan werden, der in bestimmten anderen Dingen die rechte Gesinnung hat.
Etwas subtiler und nicht so offensichtlich, aber darum umso schlimmer, ist das hinsichtlich der AfD der Fall: So wie bei den militanten Abtreibungsgegnern („Lebensschützer“ ist im Grunde das falsche Wort) die Anschläge in Kauf genommen würden, täte man politisch gemeinsame Sache mit ihnen machen, so wird auch bei der AfD ein Übel in Kauf genommen, machte man mit ihr gemeinsame Sache. In der Politik lässt sich so etwas nie gänzlich vermeiden – und das ist auch nicht meine Kritik -, deswegen kommt es darauf an, um welches Übel es sich dreht. Das verkörpert wiederum die AfD durchaus sehr schön.
Denn Hand aufs Herz: Der Lebensschutz steht im Falle der AfD in keinerlei Analogie zum Umweltschutz bei den frühen Grünen; die AfD hat sich nie als Lebensschutz-Partei profiliert, sondern vornehmlich als Grenzschutz– oder Heimatschutz-Partei. Und die These, dass es die AfD gäbe, weil Christen keine Heimat mehr in der Union hätten, gehört eher zum Eigen-Mythos der Partei denn zum tatsächlichen empirischen Befund.
Gegründet wurde die AfD als dezidiert EU(!)- und Euro(!!)-kritische, liberal-konservative Partei, und dies auf dem Rücken eines spektakulär implodierenden Westerwelle-Liberalismus. Ohne diesen Katalysator wäre die AfD genau so ein Rohrkrepierer geworden wie die „Partei der Vernunft“, die Partei „Die Freiheit“ oder die „Pro“-Parteien. Bernd Lucke hat sich zur Unterstützung die Europa(!!!)-Kritik des national-konservativen Segments ins Boot geholt, um dann am Ende wie der Zauberlehrling von den Geistern, die er rief, überwältigt zu werden.
Glaubt man Frauke Petrys Worten, dann hat sich die Partei post-Lucke liberal-konservativ aufgestellt – wobei Frau Petry ja nun ihrerseits faktisch abgesägt wurde. Tatsächlich hat auf die Initialzündung von Lucke hin ein Kultur-Nationalismus die Partei übernommen – und genau dieser Kultur-Nationalismus ist das Übel, welches man mit der AfD in Kauf nimmt. Denn genau dieser Kultur-Nationalismus setzt auf eine Entkoppelung der Werte von den Prinzipien.
Beispielhaft und ganz offen sieht man das in der Aussage von Alexander Gauland zum Christentum:
„Wir wollen nicht das Christentum im religiösen Sinne verteidigen.“ Die Wähler der AfD wollten aber, dass man für „ihr So-Sein“ kämpfe, für alles, „was man von den Vätern ererbt“ habe. „Das Christentum ist dafür dann eine Metapher.“
Dieser Standpunkt sitzt in der AfD am Steuer, und sowohl der liberalkonservative Bernd Lucke als auch die machtpolitisch motivierte Frauke Petry haben seine Durschlagskraft wohl unterschätzt. Mit diesem Standpunkt steht Gauland im national-konservativen und kultur-nationalistischen Segment jedoch nicht alleine da: Der große Vordenker ist hier der Russe Alexander Dugin, und Anders Breivik hat diese Sichtweise nicht nur in seinem Manifest ausgebreitet, sondern auch mit Waffengewalt vertreten.
Eine solche Ansicht ist darüber hinaus nicht bloß auf dieses national-konservative und kultur-nationalistische Segment beschränkt. Im Gegenteil: Es sind gerade die „Neuen Atheisten“ sowie Glaubens-, Kirchen- und Religionskritiker im Fahrwasser von Ludwig Feuerbach, welche die Religion und den Glauben an sich ebenfalls lediglich als Teilbereich von Kultur ansehen, als „Metapher für das So-Sein“. Propagiert werden damit Religiosität und Glaube gänzlich ohne Transzendenz („Über-steigen“) und gänzlich ohne Ekstase („Heraus-treten“), die auf diese Weise schön im „So-Sein“ verschanzt bleiben und sich gegen das Anders-Sein – das heißt auch und gerade: gegen das ganz andere – wehren und verwahren.
Als Vehikel für diese Perspektive dienen Werte, die ihrer grundlegenden Prinzipien entledigt sind: Weil diese Werte eben „so“ sind (oder eher: sein sollen) und nicht anders. An genau dieser Stelle gehen viele Christkonservative den Kultur-Nationalisten reihenweise auf den Leim, weil und wenn sie sich mit (den) bloßen Werten begnügen. Dass dies geschieht, würde ich a) zum Teil darauf zurückführen, dass der Christkonservatismus im Grunde ein Staats-Protestantismus ist;1 b) zum Teil darauf, dass der Christkonservatismus die Verbindung zu seinen Prinzipien nicht mehr adäquat zu pflegen scheint;2 und c) zum Teil darauf, dass es sich bloß um einen denominationellen3 Christkonservatismus handelt.4
Anyhoo:
Das Streiten um die rechten Werte erschöpft sich nach dem o.g. Ansatz letztlich in der bloßen Feststellung, dass die anderen Werte falsch seien, weil sie nicht die eigenen sind. Und um der Kontingenz der eigenen Werte zu entgehen, bleibt ultimativ nur die Absolutsetzung des eigenen Selbst. Das banalisiert die Werte, nimmt ihnen die Bedeutung, da sie auf nichts anderes verweisen als sich selbst, ent-wertet die Werte letztlich in der Selbst-referenzialität.
Vor diesem Hintergrund ist es weder überraschend, dass die maßgebliche Strömung in der AfD innerparteiliche Kontrahenten schon so oft in so kurzer Zeit abgestoßen hat, noch überrascht es, dass die allgemeine politische Kommunikation der AfD wie auch des gesamten kultur-nationalistischen Spektrums so rabiat klingt,5 noch überrascht es, dass in den Randbereichen des kultur-nationalistischen Segments – also im Feld der Reichsbürger, Impfgegner, Verschwörungstheoretiker et al. – so viele (soll heißen: eigentlich fast ausschließlich) Egomanen zu finden sind.
Das führt schließlich zur Abwägung, welches Übel das größere Übel sei: „Falsche“, das heißt effektiv andere als die eigenen Werte; konkret auch: Werte, wie sie (tlw.) in der Union vertreten werden? Oder eine De-substanziation, also eine effektive Ent-wertung der Werte wie zuvor beschrieben?
In dieser Situation sage ich: Letzteres ist das größere, da fundamentalere Übel.
Falsche Werte können erkannt und korrigiert werden, und zwar auf Grundlage von Prinzipien; hier besteht das Anders-Sein immer als Möglichkeit. In der zuvor beschriebenen Desubstanziation wird das Anders-Sein als Möglichkeit per se ausgeschlossen und verhindert; falsche Werte sind lediglich andere Werte, und ihre Falschheit zeigt sich nurmehr darin, dass sie anders sind.
Ersteres fordert Aus-ein-ander-setzung und konstituiert Beziehung. Letzteres fordert Identität und konstituiert ultimativ Gewalt.
Ersteres kann universal sein bzw. werden. Letzteres muss total sein bzw. werden.

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