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Guido Westerwelle und die „spätrömische Dekadenz“

Sagen wir es so: Die „spätrömische Dekadenz“ ist in Westerwelles Kommentar – zumindest
so wie ich es verstehe, ich lasse mich da aber gerne belehren – auf diejenigen
gemünzt, die ohne Anstrengung (sprich: ohne Leistung) Wohlstand genießen.

Anders:

Die Aussage ist an diejenigen gerichtet, die auf Kosten der staatlichen Umverteilungsmaschinerie leben. Eben wie es auch mit der dekadenten Oberschicht, um bei der populären Vorstellung zu bleiben, in spätrömischer Zeit der Fall war. Es ist das Leben ohne eigene Leistung auf Kosten anderer, das er hier kritisiert und meint. In libertären Kreisen nennt man diese Leute auch „Nettostaatsprofiteure“. Karl Marx hat ganz einfach von Ausbeutung gesprochen. In Berlin stellt diese demographische Gruppe bereits jetzt die Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung; sollten die üblichen Projektionen zutreffen, dürfte dies spätestens in 15 bis 20 Jahren bundesweit der Fall sein.

Die Sklaven und Bauern in diesem Analogieschluss sind nicht die Hartz4-Empfänger, sondern diejenigen, die den Mehrwert erarbeiten. Um bei Marx zu bleiben: diejenigen, die produktiv sind – und das sind eben die Steuer- und Beitragszahler, die durch ein ochlokratisches System ausgebeutet und geschröpft werden.

Ich sehe in der Debatte um Westerwelles Aussage tatsächlich zwei Geschichtsbilder aufeinanderprallen. Zum einen jenes, das dem historischen Materialismus einer marxistischen Denkschule nahesteht und die Geschichte als Geschichte der Klassenkämpfe wahrnimmt. Da ist es natürlich verständlich, dass einerseits Dekadenz – Reichtum – Manager, andererseits Ausgebeutete – Sklaven/Bauern – Hartz4-Empfänger kongruent gesetzt und andere Verständnisebenen vollkommen ausgeblendet werden. Da ist es dann auch nachvollziehbar, dass mit „historisch falsch“ als Kategorie gearbeitet wird – schließlich wird hierbei mit der Geschichte als Wahrheit hantiert. Wissenschaftlich ist das in meinen Augen allerdings nicht, ganz im Gegenteil.

Das andere Geschichtsbild, dem mir auch Westerwelle anzuhängen scheint, steht einerliberaleren Auffassung nahe, die allerdings in den Dienst politischer Arbeit gestellt wird. Geschichte wird hier als Waffe verwendet. Die Verständnisebene verschiebt sich im Vergleich zur marxistischen Auffassung, die Gleichstellung oder Kongruentsetzung weicht einem Analogieschluss, der eben Merkmale erkennt und sie in der heutigen Zeit wiederfindet. Und da ist es dann eben nicht die Linie von der Dekadenz zu den Managern, sondern es sind die Ähnlichkeiten in der institutionalisierten Ausbeutung der arbeitenden (wertschöpfenden) Bevölkerung, die eben einen anstrengungslosen Wohlstand für diejenigen garantiert, die an den Schalthebeln dieser Institutionen sitzen. Im aristokratisch-oligarchisch geprägten römischen Reich waren dies die Adligen und Grundbesitzer, in unserem demokratisch-ochlokratisch verfassten Gemeinwesen sind es eben die Massen derer, die mittels Stimmzettel andere enteignen können. Das kann man historisch also durchaus begründen.

Da aber letzteres Geschichtsbild sehr viel Gegenwind erfährt, halte ich es durchaus für wahrscheinlich, dass der Sozialismus eben keine bloße Killerphrase darstellt, sondern – durch seine Geschichtsauffassung – in den Köpfen der werten Herren (und Damen natürlich auch) noch virulent vertreten ist, um nicht zu sagen: real existiert.

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