Thesen zur Bundestagswahl 2005
Wer hat die Wahl gewonnen? Im Gegensatz zum Jahre 2002, in welchem eine entsprechende Aussage des Unions-Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber binnen kurzer Zeit an den Felsen der Realität zerschellte, zeigt sich nach dieser Wahl ein sehr undurchsichtiges Bild der gesamten Sachlage.
Auch wenn es bis zur Nachwahl in Dresden kein amtliches Endergebnis geben wird, so kann man doch bereits jetzt folgendes erkennen:
Die beiden großen Lager – die bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP auf der einen und der linke Block, bestehend aus SPD, Grünen und „Linkspartei“, auf der anderen Seite – existieren weiterhin nahezu unverändert. Kein Lager konnte dem anderen wirklich Stimmen abnehmen, es gab lediglich innerhalb beider Blöcke interessante Verschiebungen. So fruchteten beispielsweise die Zweitstimmenkampagnen der kleineren Parteien FDP und Bündnis 90/Die Grünen.
Vor allem der starke Zugewinn der FDP ist hierbei auffallend und rührt möglicherweise daher, dass der Wähler keine große Koalition wollte und somit dem kleinen Koalitionspartner ein wenig unter die Arme zu greifen gedachte. Leider konnte die Union im Gegenzug zum einen nicht genügend Wahlkreise gewinnen, um den Zweitstimmenverlust auszugleichen, was aber – wenn man sich einmal vor Augen führt, dass hierfür der Gewinn von nahezu vier Fünfteln aller Wahlkreise in Deutschland notwendig gewesen wäre – mehr oder weniger unrealistisch erscheint. Zum anderen aber gelang es der Union nicht, sowohl die Wähler an sich zu binden, die noch im Frühjahr als einzige Alternative zu Rot-Grün die CDU/CSU sahen und nach und nach zur „Linkspartei“ abgewandert sind, als auch einen entsprechenden Teil der bisherigen Nichtwähler für sich zu mobilisieren. Weiterhin muss man betrachten, dass es auch im Verlauf des Wahlkampfes einige Pannen gab, die wohl den einen oder anderen Wähler kosteten: so beispielsweise die misslungene Kampagne um die geplante Mehrwertsteuererhöhung, bei der nichts weiter als die Steuererhöhung im Gedächtnis haften blieb, während niemand mehr über den Sinn eines solchen Vorhabens debattierte, oder das Einknicken im Verlauf der Diskussion um Paul Kirchhof (bei der das rot-grüne Lager mit aller Deutlichkeit bewies, dass es nicht zwischen Steuersatz und Steuerbetrag unterscheiden kann), welches dann in der Nachnominierung von Friedrich Merz mündete. Ebenfalls hat man es verpasst, dem vermeintlichen „Friedenskanzler“ seiner nach Pazifismus riechenden Selbstdarstellung die harte Realität gegenüberzustellen, die vor allem durch einen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts doch eine deutsche Beteiligung am Irak-Krieg kennt.
Die enormen Stimmenverluste der SPD hingegen lassen sich mit einer wirksamen Kampagne der „Linkspartei“ erklären, die wohl vor allem frustrierte Sozialdemokraten an sich binden konnte und somit als fünfte Fraktion in den deutschen Bundestag einzog. Die Grünen konnten durch ihre „Zweitstimme ist Joschka-Stimme“-Parolen ihr Ergebnis von 2002 bestätigen.
Hier stellt sich wieder die Frage: Wer hat die Wahl denn eigentlich gewonnen?
Zweifellos kann man die FDP mit ihrem besten Ergebnis seit den Tagen der sozialliberalen Koalition unter Schmidt/Genscher zu den Tagessiegern des 18. September zählen. Sie hat sich als stärkste Kraft unter den „Kleinen“ durchgesetzt. Ob dies aber von längerfristiger Dauer sein wird, bleibt ebenso abzuwarten wie die Frage, ob ihr dieses starke Ergebnis in der nun kommenden Legislaturperiode nützen wird.
Dass die Union diese Wahl nicht gewonnen hat, dürfte ebenso außer Frage stehen. Der Stimmenverlust von ca. drei Prozentpunkten ist, vor allem gemessen an den Erwartungen, katastrophal und hat die Merkel-Kritiker vom einen auf den anderen Moment wieder ins Rampenlicht gebracht.
Und dass die SPD die Wahl verloren hat, dürfte, entgegen der Reden Schröders und Münteferings, genauso zweifellos sein. Denn zu einem Wahlsieg ist es nicht nur notwendig, dass der politische Gegner keine Mehrheit erhält, sondern dass die eigene Mehrheit gesichert ist. Rot-Grün hat jedoch keine eigene Mehrheit mehr, woraus folgt, dass auch die Politik, für welche Schröder um Vertrauen warb, keinen Auftrag mehr erhalten hat.
Doch im Gegensatz zum Konrad-Adenauer-Haus, wo man zugibt, hinter den eigenen Erwartungen geblieben zu sein, und auch eigene Fehler einräumt, geben sich die Genossen als die Gewinner dieser Wahl aus. Da stellt sich die Frage: Wollte man mit den erzwungenen Neuwahlen einen neuen Wählerauftrag mit der bestehenden Koalition erhalten oder hat man sie nur angesetzt, um eine schwarz-gelbe Regierung zu verhindern? Wählt man letztere Option, so muss man sagen, dass es doch einer Farce gleicht: eine rot-grüne Regierung stellt sich vorzeitig zur Disposition, um eine schwarz-gelbe Regierung zu verhindern, obwohl eine schwarz-gelbe Regierung aufgrund der Zusammensetzung des fünfzehnten Bundestages überhaupt keine Möglichkeit hat, eine Regierung zu stellen. Dies scheint, nach den Erklärungen zur Vertrauensfrage, ein weiterer logischer Spagat zu sein, den das linke Lager hier scheinbar zu vollbringen sucht. Weiterhin ist es auffällig, dass man sich eher über die doch eingetroffene Niederlage des Gegners freut als auf die eigenen Verluste zu sehen. Die Diskussion um ein „Wie geht’s weiter in diesem Land?“ weicht purer Schadenfreude darüber, dass es die Union wieder einmal nicht geschafft hat, im Verbund mit der FDP eine klare Mehrheit zu erreichen.
Hier muss man sich fragen: steckt eventuell doch mehr dahinter? Was bringt einen Gerhard Schröder dazu, lauthals zu verkünden, er habe einen neuen Wählerauftrag erhalten? Warum saß er breit grinsend in der „Elefantenrunde“ und machte den Anspruch für sich geltend, mit einer neuen Regierungsbildung beauftragt worden zu sein? Schließlich sieht sie Situation momentan so aus: Rot-Grün hat keine Mehrheit mehr. Schwarz-Gelb hat keine Mehrheit erreicht. Eine eventuelle Erweiterung der bisherigen Koalition um die FDP („Ampelkoalition“) wird von Seiten der Liberalen abgelehnt. Und auch eine Erweiterung von Schwarz-Gelb um die Grünen („Schwampelkoalition“, „Jamaika-Koalition“) dürfte in beiden Lagern auf wenig Gegenliebe stoßen, was nicht zuletzt an völlig inkompatiblen Wahl- und Parteiprogrammen liegt. Zu guter letzt scheint auch eine große Koalition angesichts der fast schon zur Überheblichkeit neigenden Haltung Schröders, den Kanzler zu stellen, wenig realistisch. Was bleibt, ist eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit zwischen der bisherigen rot-grünen Koalition und der neu in den Bundestag eingezogenen „Linkspartei“. Obwohl dies von Seiten Gerhard Schröders und Franz Münteferings am Wahlabend bestritten wurde, sprachen das Verhalten der jeweiligen Spitzenkandidaten, Gerhard Schröders sowie Lothar Biskys, eine andere Sprache. Während Angela Merkel darauf Aufmerksam machte, dass ihr als Vorsitzender der größten Partei (bzw. Fraktion) im neuen Bundestag die Sondierung obläge, und Guido Westerwelle mehr als einmal sehr deutlich einer Zusammenarbeit mit Rot-Grün eine Absage erteilte, schien sich Gerhard Schröder sehr sicher zu sein, doch noch zu einer Mehrheit im Bundestag zu kommen. Wolfgang Gerhardt brachte dies in einer Gesprächsrunde im ZDF auf den Punkt, als er aussprach, was das Verhalten des Bundeskanzlers in der „Elefantenrunde“ andeutete: dass die SPD wohl auf ein rot-rot-grünes Bündnis setze. Erhärtet wird dieser Verdacht dadurch, dass sich die Genossen der „Linkspartei“ am Wahlabend urplötzlich nicht mehr so deutlich gegen eine Zusammenarbeit mit der rot-grünen Koalition aussprachen, wie das noch zu Zeiten des Wahlkampfs war. Nun hielt man sich eher allgemein und beteuerte, es gebe eigene Standpunkte und die Standpunkte der anderen. Eine definitiv klare Absage wie man sie beispielsweise von Guido Westerwelle hörte, suchte man hier vergeblich. Und so scheint entweder eine Koalition bestehend aus SPD, Grünen und „Linkspartei“ oder aber eine Tolerierung der rot-grünen Koalition seitens der „Linkspartei“ in die Nähe des Wahrscheinlichen zu rücken.
Was also kann man sicher über diese Wahl sagen?
Zum einen, dass sich das deutsche Volk nicht so recht zwischen beiden Lagern entscheiden konnte. Die Geschichte der Bundesrepublik zeigt, dass sich der Wähler schwer tut mit dem Regierungswechsel: nur einer von sieben Bundeskanzlern wurde durch das Votum des Souveräns gegen seinen Vorgänger ins Amt gebracht. Die restlichen Regierungswechsel spielten sich alle auf parteitaktischer Ebene ab.
Zum anderen, dass Angela Merkel diese Wahl nicht gewonnen und Gerhard Schröder sie verloren hat.
Ob die gewählten Repräsentanten diese Unentschlossenheit des Wählers adäquat und vor allem sinnvoll in seiner Vertretung umsetzen und das Beste daraus machen können, wird sich zeigen. Und wenn nicht, dann werden wir in naher Zukunft noch einmal an die Urnen schreiten.

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